Duisburg. Deutschlands erste stadtteilscharfe Corona-Studie zeigt am Beispiel Duisburg, wie soziale Ungleichheit die Ausbreitung des Virus beeinflusst hat.

Wer unsere Corona-Berichterstattung verfolgt hat, weiß: Vor dem Virus sind wir nicht alle gleich. Sogar innerhalb des Duisburger Stadtgebietes war das allgemeine Ansteckungsrisiko – also bezogen auf Gruppen, nicht die Einzelnen – abhängig vom Wohnort unterschiedlich groß. In den Infektionswellen Ende 2020 und im Frühjahr 2021, als Geimpfte noch die Ausnahme waren, gab es in Stadtteilen mit überdurchschnittlich vielen sozial benachteiligten Bewohnern deutlich mehr bekannte Infektionen. Eine Studie der Leibniz Universität Hannover (LUH) hat nun am Duisburger Beispiel nachgewiesen, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten eine entscheidende Rolle bei der Ausbreitung des Virus gespielt haben. Das Ergebnis dieser ersten stadtteilscharfen Studie hierzulande ist auch als Auftrag an Politik und Bildungswesen interpretierbar.

„Der Zusammenhang zwischen sozialen Ungleichheiten und Covid-19 Fallzahlen auf Stadtteilebene – eine Fallstudie für 46 Stadtteile.“ Diesen Titel haben Postdoktorand Dr. Lars Mewes und dessen Master-Student Max-Leon Straßburger ihrer Untersuchung gegeben. Die beiden sind weder Epidemiologen noch Medizinsoziologen, sondern Wirtschaftsgeografen. Straßburger stammt aus Duisburg. Für die Stadt als Untersuchungsgegenstand aber sprach vor allem: die Verfügbarkeit der Zahlen, sagt Mewes. „Es war schwierig, Daten zu finden. Viele Städten waren sehr vorsichtig.“

Corona: Duisburger Gesundheitsamt liefert die Daten für Forschungslücke

Wer arm ist, wird häufiger krank – dass dieser Zusammenhang (von dem es freilich viele individuelle Ausnahmen gibt) spätestens in der zweiten Welle auch für Covid-19 galt, war Medizinern weltweit schnell klar. Auf Fallzahlen beruhende Studien gab es zunächst jedoch allenfalls für wenige Megastädte wie New York und Peking.

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Dieser Forschungslücke widmeten sich die Wissenschaftler mit Hilfe des Duisburger Gesundheitsamtes: Die Behörde von Leiter Ludwig Hoeren konnte die Anzahl der Infizierten pro 100.000 Einwohner zwischen dem 9. November 2020 und dem 14. Februar liefern – sortiert nach 46 Stadtteilen.

Soziale Ungleichheiten werden „gerade auf der Mesoebene von Stadtteilen deutlich, da es sich hierbei um das direkte, räumliche Wohnumfeld von Individuen handelt und somit Unterschiede im sozio-ökonomischen Status besonders gut sichtbar werden“, erläutern die Autoren.

So ist soziale Ungleichheit messbar

Soziale Ungleichheit aber zeigt sich nicht nur am Einkommen und ist schwer zu fassen. Mewes und Straßburger ist die Messung der jeweiligen sozialen Lage eines Ortsteils mit mehreren Quellen gelungen. Sie bildeten einen sozio-ökonomischen Status („SES Score“) mit fünf Indikatoren, die auf Stadtteile-Ebene vorlagen:

  • SGB-II-Quote,
  • durchschnittlicher Mietpreis pro Quadratmeter,
  • durchschnittliche Übergangsquote aufs Gymnasium,
  • Anteil übergewichtiger und adipöser Kinder bei der Schuleingangsuntersuchung,
  • Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund.

Denn in Vierteln mit schlechter sozialer Lage gibt es nachweislich mehr Übergewichtige. Und der ,Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund’, erläutert Mewes diesen Indikator, zeige einen Zusammenhang mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status an. Ein hoher Migrantenanteil sei also keinesfalls Ursache für ein stärkeres Infektionsgeschehen, sondern hierzulande Ausdruck einer schlechteren soziale Lage: „Menschen mit Migrationsgeschichte haben einen schlechteren Zugang zu Bildung, zu Wohlstand und auch zu Gesundheit.“

Zudem sei ein hoher Anteil von Migranten (– „eine sehr heterogene Gruppe“, betont Mewes) in einem Viertel meist „Ausdruck von Segregation“, also von Entmischung der Einwohner innerhalb des Stadtgebietes entlang bestimmter Merkmale. „Speziell in Duisburg steht eine ethnische Entmischung in einem deutlichen Zusammenhang mit dem sozio-ökonomischen Status der Bevölkerung, gemessen in Form des Bildungs- und Einkommensniveaus“, verweisen die Forscher etwa auf den Sozialbericht 2018. Dieses Phänomen hat sich durch die Zuwanderung von rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen nochmals verschärft.

Extremfälle von Obermarxloh bis Ungelsheim

Mit einem statistischen Verfahren („lineare Regression“) haben Mewes und Straßburger ausgerechnet, welchen Einfluss der SES-Score auf die Corona-Zahlen hatte. Das Ergebnis: „ein negativer Zusammenhang zwischen dem sozio-ökonomischen Status und der Morbidität im Zuge der zweiten Welle der SARS-CoV-2.“ Heißt: Wer wenig verdient und in beengten Wohnverhältnissen lebt, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich mit Covid-19 zu infizieren (siehe unten).

Extrembeispiele: Die meisten Fälle je 100.000 Einwohner gab es im 14-wöchigen Untersuchungszeitraum in Obermarxloh, das laut SES-Score die fünftschlechteste soziale Lage hat (siehe Grafik). Und in Bruckhausen, dem Ortsteil mit dem niedrigsten sozio-ökonomischen Status etwa, wurden mehr laborbestätigte Fälle als in 41 anderen Stadtteilen registriert. Am anderen Ende der Skala gab es in Stadtteilen mit höherem SES-Score signifikant weniger Infektionen, die wenigsten in Ungelsheim und Mündelheim.

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Impfaufklärung und Gesundheitsunterricht

Dass das Infektionsrisiko Benachteiligter im Laufe einer Pandemie nicht durchgängig höher ist, zeigt das Beispiel Duisburg ebenfalls: Anfang 2020 haben besser situierte Ski-Urlauber das Virus eingeschleppt. Im Delta-Winter Ende 2021 verringerten in Ex-Hotspots wohl auch Herdenschutzeffekte das allgemeine Ansteckungsrisiko, ehe die nochmals ansteckenderen Omikron-Varianten 2022 zu einer flächendeckenden Durchseuchung geführt haben.

Der empirische Nachweis, dass die Pandemie in Duisburg „einen klaren geografischen Verlauf zu Ungunsten sozial benachteiligter Stadtteile“ genommen hat, ist nicht zwangsläufig auf das aktuelle Infektionsgeschehen und andere Städte übertragbar.

Er verdeutlicht aber, wie sehr Krisen- und Gesundheitsmanagement in solchen sozialen Lagen ebenso wie Bildungseinrichtungen gefordert sind: kurz- und langfristig – und aktuell. Ein Fazit der Forscher: „Die Verbesserung von Informationen zu Schutzimpfungen ist daher ein entscheidender und vor allem kurzfristig beeinflussbarer Faktor, um Ansteckungsraten im Kontext der aktuellen Pandemie zu reduzieren und die Impfquote gezielt zu verbessern.“ Die Autoren erwähnen zwar als gute Beispiele die aufsuchenden Impfungen der Stadt Duisburg. Ihre Studie hinterlässt dennoch die Frage, wie engagiert die Behörden zurzeit und langfristig an der Aufklärung etwa im Duisburger Norden arbeiten.

Wirtschaftsgeograf Mewes betont auf Nachfrage die Bedeutung kontinuierlicher Bildung: „Gesundheitsunterricht und ein gutes Bewegungsangebot können direkten und langfristigen Einfluss auf die Gesundheit Einzelner haben.“ Auch hier ist: der Zugang zu Bildung der Schlüssel.

Gesundheitsunterricht an Schulen hätte besonders in sozial benachteiligten Stadtteilen kurzfristig und langfristig positive Effekte.
Gesundheitsunterricht an Schulen hätte besonders in sozial benachteiligten Stadtteilen kurzfristig und langfristig positive Effekte. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

>> DARUM STECK(T)EN SICH BENACHTEILIGTE HÄUFIGER MIT CORONA AN

Allgemeine Ursachen für das höhere Infektionsrisiko sozial Benachteiligter sind vielfältig. Sie haben seltener die Möglichkeit, von zuhause aus zu arbeiten, müssen häufiger den ÖPNV nutzen. Sie haben mehr Kontakte und weniger Geld zum Beispiel für FFP2-Masken. Auch sind Supermärkte und Drogerien in benachteiligten Vierteln stärker frequentiert. Hinzu kommt, dass die Ansteckungsgefahr dort am größten ist, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben. Schlechter Gebildete sind zudem durchschnittlich schlechter über Infektionsrisiken und Schutzmaßnahmen informiert, insbesondere bei Sprachbarrieren. Ärmere haben zudem ein erhöhtes Risiko, schwer zu erkranken, weil sie in Folge ihrer Lebensverhältnisse häufiger unter Vorerkrankungen leiden.

Eine redaktionelle Auswertung der Fallzahlen auf Bezirksebene vom 23. November 2020 bis zum 4. April 2021 ergab zudem klare Hinweise auf diese Zusammenhänge:

– Je höher der Anteil der Haushalte mit Kindern, desto mehr Corona-Fälle wurden unter den Einwohnern gemeldet.

– Je höher der Anteil der 0-bis 18-Jährigen unter den Einwohnern, desto mehr bekannte Corona-Fälle wurden dort registriert.

Starken Einfluss auf das individuelle Infektionsrisiko haben vor allem persönliche Einstellungen, was etwa die extremen Infektionszahlen in Sachsen verdeutlicht haben. Dort stehen die Einwohner Infektionsschutzmaßnahmen besonders kritisch gegenüber.

>> STADT DUISBURG INFORMIERTE ERST NICHT, SPÄTER SEHR AUSFÜHRLICH

■ Unsere Lokalredaktion hatte bis November 2020 mehrfach vergeblich versucht, innerstädtisch aufgeschlüsselte Corona-Fallzahlen von der Stadtverwaltung zu erhalten.

■ Nachdem wir dies auch in Artikeln kritisiert hatten, begann die Stadt im Dezember 2020 mit der Veröffentlichung von nach Bezirken sortierten Zahlen – und im April 2021 mit der wöchentlichen Veröffentlichung von Stadtteil-Fallzahlen. Seither berichtet in NRW keine Großstadt derart präzise und aktuell über das innerstädtische Infektionsgeschehen wie die Stadt Duisburg.

■ Seit Anfang Februar 2022 hat die Aussagekraft der Corona-Zahlen wegen der veränderten Test- und Quarantäneordnung stark nachgelassen: Da die Amtsstatistik nur PCR-Befunde berücksichtigt, gehen viele bekannte Fälle nicht mehr in die Inzidenzberechnungen ein. Seither haben oft sozial benachteiligte Viertel die offiziell niedrigsten Inzidenzwerte.