Duisburg. Erkan Üstünay musste mit Covid ins Krankenhaus. Nun klärt er in Hotspots auf. Wie er und Pater Oliver Corona-Häufungen unter Migranten erklären.
Der Krisenstab bestätigt eine „Häufung von Corona-Fällen in migrantisch geprägten Bezirken“. Die Statistik auch: In Hamborn und Meiderich/Beeck gibt es wie berichtet dauerhaft anteilig fast doppelt so viele Infektionen wie im Süden. Die Stadt erklärt dies mit „größeren Familienverbänden auf engerem Wohnraum“ und den Risiken durch „prekäre Beschäftigungsverhältnisse“ – wie Forscher andernorts also: Demnach verursachen in erster Linie die Folgen von Armut und Bildungsdefiziten extreme Inzidenzen in Problemstadtteilen. Polizei und Ordnungsamt berichten gleichwohl weiter auch von größeren Familienfeiern, also kulturell bedingten Infektionsrisiken. Die Stadt verweist auf alle vielsprachigen Bemühungen, Duisburger mit Migrationshintergrund zu erreichen. Warum es trotzdem so viele Infektionen und Todesfälle unter Migranten gibt, erklären auf Nachfrage zwei, die in Hotspots leben: Pater Oliver Potschien, Leiter des Petershofs in Marxloh, und Erkan Üstünay.
Üstünay wohnt in Alt-Hamborn, ist Vorsitzender des Sportvereins Genc Osman und war Vorsitzender des Integrationsrates. Bei dessen Neuwahl im September holte die SPD mit Üstünay auf Listenplatz 1 die meisten Stimmen. Seither hat sich der neue Integrationsrat wegen der Corona-Lage noch nicht konstituiert. Das ist bitter, gerade wegen des erhöhten Risikos vieler Menschen, deren Interessen das Gremium vertreten soll.
Erkan Üstünay, Alt-Hamborn: „In unserem Umfeld sind sehr viele Menschen gestorben“
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Den 45 Jahre alten Familienvater Üstünay hatte das Virus Ende September auch schwer erwischt. Er hatte sich voller Angst mit einer schweren Lungenentzündung schon von seiner Frau und seinen beiden Kindern verabschiedet. „Das war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Nach mehrwöchiger Behandlung aber konnte er die Helios St. Johannes Klinik in Hamborn wieder verlassen. „Pfleger und Ärzte – alle haben sich dort sehr gut um mich gekümmert. Ich bin ihnen wirklich sehr dankbar.“
Zumal der gelernte Kommunikationselektroniker zurzeit erlebt, wie tödlich Covid-19 ist. „In unserem Umfeld sind sehr viele Menschen gestorben.“ Üstünays Umfeld, das seien Menschen mit Wurzeln in der Türkei, arabischstämmige, bulgarische und deutsche Familien, erläutert der Mann, den viele Jugendliche „Abi“ nennen. Im Türkischen bedeutet das: älterer Bruder. Seit seiner Covid-Erkrankung ist der groß gewachsene Lokalmatador als Aufklärer in den Quartieren unterwegs.
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Aus seiner Sicht gibt es mehrere Gründe für Inzidenzdauerhochs dort: „Am stärksten betroffen sind die Stadtteile, in denen die Bevölkerung besonders jung ist. Und viele jüngere Leute halten sich nicht an die Corona-Regeln.“ Einige fühlten sich unverwundbar und „viele nehmen die Gefahr nicht ernst. Die Jugendlichen treffen sich privat auch drinnen, in Kellern und Gartenlauben“. Einige reagierten mit Trotz auf den Druck durch Polizei und Ordnungsamt, und ja: „Es gibt auch immer noch vereinzelt Sprachbarrieren und Ignoranz – Leute, die nicht an Corona glauben. Wie Querdenker.“
Reden statt schriftlich informieren und bestrafen
Was helfen kann? „Man muss mehr in die Quartiere gehen, mit den Leuten direkt reden, sie aufklären statt nur schriftlich zu informieren und zu bestrafen. Den Jungen klar machen: Ihr müsst auch eure Familien schützen.“ Am besten könnten das „Multiplikatoren, die sich vor Ort auskennen“. Solche wie er. Üstünay sucht das Gespräch, informiert und appelliert, an Ständen des Kommunalen Integrationszentrums (KI), ebenso abends, wenn er Gruppen an Treffpunkten anspricht.
Die Stadt habe mit ihren Bemühungen und Kanälen die „kleinteiligen Communitys leider nicht erreicht“. Zu viele der Jungen hätten die Infos aus sozialen Medien oder Whatsapp-Ketten nicht weitergegeben, von den Älteren „lesen viele keine Zeitung, viele haben kein Smartphone“. Darum begrüßt Üstünay die vielsprachigen Lautsprecherdurchsagen, mit denen das Bürger- und Ordnungsamt die Hotspots seit dem 19. April aus Dienstwagen heraus beschallt. Er appelliert aber – auch mit Blick auf die Impfkampagne – an die Stadt: „Wir müssen Leute, denen die Menschen vertrauen, für die persönliche Ansprache gewinnen.“
Corona-Dilemma in vielen Familien
Ansteckungen begünstige in den dichter besiedelten Quartieren auch, dass viele Großfamilien in Mehrfamilienfamilienhäusern mit anderen kinderreichen Familien leben, so Üstünay. Die oftmals symptomfreien Kinder stecken sich untereinander an, diese wiederum Verwandte.
Pater Oliver Potschien, Leiter des Sozialpastoralen Zentrums Petershof, erklärt, es sei seiner Beobachtung nach in Familien mit arabischem und türkischem Hintergrund „kulturell determiniert, dass sich alle um alle kümmern. Das geht gar nicht anders. Wenn die Oma in einer libanesischen Familie erkrankt, dann versorgen auch Kinder und Enkel sie.“ Dazu passt, was das Gesundheitsamt berichtet: In der dritten, von der ansteckenderen britischen Mutante dominierten Welle infizieren sich oft nacheinander alle Personen eines Haushaltes.
In den Familien steige „das Verständnis für Gefahren und Infektionsschutz mit der Bildung“, berichtet Potschien. Und betont noch einmal: Das erhöhte Risiko für Menschen mit Migrationshintergrund „ist in erster Linie eine Armuts- und Bildungsproblematik, dann erst eine Herkunftsproblematik“.
„Generationenkonflikt“ und Verschwörungsvideos
Der Pater nimmt wie Üstünay zudem „einen Generationenkonflikt“ wahr. Viele Jugendliche begleite eine Grundskepsis gegenüber den staatlichen Informationen und Anordnungen, auch Videos von Verschwörungsmystikern kursierten in Marxloh, besonders unter rumänischen und bulgarischen Zuwanderern.
Darum sei es „besonders bedauerlich, dass es hier keine vernünftige Gesprächsebene zwischen der Stadt und vielen Gruppen gibt“. Das mitunter martialische Auftreten des städtischen Außendienstes sei da oft kontraproduktiv.
>> PETERSHOF, AUFKLÄRUNGSARBEIT, STADTTEIL-DATEN
■ Im Sozialpastoralen Zentrum Petershof des Georgswerks übernehmen über 100 ehrenamtliche Mitarbeiter aus Marxloh Aufgaben in Gesundheitsfürsorge, Sozial-, Jugend- und Obdachlosenarbeit.
■ Der Petershof hatte zuletzt bereits gute Erfahrungen mit Stadtteilpaten gemacht, die mit persönlicher Ansprache auf Bulgarisch, Rumänisch und Türkisch und Handzetteln in der jeweiligen Sprache zu Corona aufgeklärt hatten. Mit Blick auf die Impfungen hofft Pater Oliver für den Petershof, mit „den jeweiligen Meinungsführern der Communitys ins Gespräch zu kommen und gemeinsam das Eis brechen und aufklären zu können“.
■ Die Stadt hatte Mitte April angekündigt, „aufgrund der anhaltend hohen Infektionszahlen ihre Aufklärungsarbeit in den besonders betroffenen Stadtteilen zu verstärken“: nicht nur mit Lautsprecherdurchsagen, sondern auch vor Ort: mit „Informationstischen und Multiplikatoren aus den Communitys“.
■ Alle verfügbaren Corona-Zahlen aus Duisburgs Stadtteilen und Bezirkenlesen Sie in dieser Übersicht, die auch alle Grafiken und Artikel zum Thema enthält.