Bottrop. Bottroper Kinder sind in Kinderkurheimen misshandelt worden. Die Stadt will die Vergangenheit nun aufarbeiten und bietet Hilfe an.

Knapp 1,9 Millionen Kinder aus NRW sind zwischen 1950 und 1990 in sogenannte Erholungs- oder Verschickungsheime geschickt worden. Viele von ihnen aus dem Ruhrgebiet. Auftraggeber waren Krankenkassen, aber auch Deutsche Bahn und Deutsche Post sowie große regionale Arbeitgeber; in Bottrop vor allem die Ruhrkohle.

Von Reizklima und guter Luft war viel die Rede, verschwiegen wurden schikanöse Alltagsstrukturen, drastische Strafen, Zwangsernährung und Erniedrigung, und erst recht der Einsatz von Beruhigungsmitteln, der an der Tagesordnung war. In einigen Heimen fanden sogar Medikamentenversuche statt. Wie viele Bottroper Kinder betroffen waren, lässt sich heute nicht mehr ohne weiteres feststellen. Trotz Recherchen mit Unterstützung des Stadtarchivs bei verschiedenen Bottroper Ämtern waren Unterlagen aus der damaligen Zeit nicht mehr aufzufinden.

Doch dass auch Bottroper unter den Opfern von Gewalt und Zwangsernährung waren, haben die eindrücklichen Schilderungen mehrerer Frauen gezeigt, über die die WAZ berichtet hat. Sie erlebten Schreckliches in Kinderkurheimen auf Norderney, in Waldbreitbach und Bad Oeynhausen.

Stadt Bottrop will verschickten Kindern ein Forum für Austausch bieten

Der Verwaltungsvorstand der Stadt will den Betroffenen ein Forum für Austausch und Gespräche bieten. Denn allen ist klar, auch wenn die Erfahrungen schon Jahrzehnte zurückliegen, haben sie bei vielen bis heute tiefe Wunden und langanhaltende Traumata hinterlassen. Oberbürgermeister Bernd Tischler und Sozialdezernentin Karen Alexius-Eifert luden deshalb zu einem Vortrag zur Kinderverschickung ins Haus der Vielfalt des Paritätischen ein.

Den Fachvortrag hielt Detlef Lichtrauter, Gründungsmitglieder des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW e.V.“ Der Verein versucht zusammen mit renommierten Wissenschaftlern, Hintergründe der Verschickungen aufzudecken und Betroffene aktiv zu unterstützen.

Im ersten Teil seines Beitrags schilderte der 62-Jährige, der selbst vor 50 Jahren zu den Verschickungskindern gehörte, eindringlich die furchtbaren Zustände, die in den sogenannten Kinderheilanstalten herrschten. Dabei wird neben individueller Schreckensherrschaft einzelner Heimleiter auch ein strukturelles Muster erkennbar: Die Kinder hatten sich dem übergeordneten Ziel „Erholung“ in jeder Hinsicht unterzuordnen. Und Erholung wurde in Kilo gemessen.

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Wer da ausscherte, wer Vorschriften wie Redeverboten, Essenszwängen, Trinkverboten nach 17 Uhr oder Toilettenritualen nicht einhielt, dessen Wille wurde brutal gebrochen. Durch körperlichen Zwang und beschämendes Zurschaustellen vor der Gruppe. Bewegung, Spielen, Toben? Verboten. „Das hätte ja die Gewichtszunahme gefährdet“, erklärt Lichtrauter.

Kinderverschickungen in NRW: 14.000 Erfahrungsberichte von Betroffenen

Dem Verein „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW e.V.“ liegen etwa 14.000 Erfahrungsberichte vor. Diese große Datenmenge trägt zur Aufklärung bei, und die Erkenntnisse werden in einen sogenannten Runden Tisch eingebracht, der auf Initiative des Landtags entstand und sich unter Federführung von Sozialminister Karl-Josef Laumann konstituiert hat.

Detlef Lichtrauter, 1. Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e. V.“, bei seinem Vortrag in Bottrop.
Detlef Lichtrauter, 1. Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e. V.“, bei seinem Vortrag in Bottrop. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Dort wird auch analysiert, wer Gewinn aus der Kinderverschickung gezogen hat. „Dabei wird ein ineinandergreifendes System sichtbar“, beschreibt Detlef Lichtrauter. Zum einen waren da natürlich die Heimbetreiber. Sie bekamen einen festen Tagespflegesatz pro Kind, und wenn sie die Kosten niedrig hielten, war der Betrieb sehr einträglich.

So war das Essen in den Kurheimen nicht nur extrem kalorienreich und fetthaltig; bei örtlichen Lieferanten, etwa Molkereien, wurden auch billig Waren über dem Verfallsdatum oder gar verdorbenen Produkten gekauft, die den Kindern dann aufgezwungen wurden. Das erhöhte die Gewinnspanne. Einige der Gäste schilderten am Dienstag, dass sie bis heute bestimmte Lebensmittel nicht zu sich nehmen können. „Mir geht es so bei Quark“, erzählt eine der Betroffenen und schüttelt sich.

Kinderverschickungen: Diese Institutionen haben davon profitiert

Zur Gewinnmaximierung trug auch der Einsatz von schlecht ausgebildetem Personal bei. Die „Effizienz“ wurde ferner gesteigert durch Rituale wie stundenlange Mittagsruhe, in der es unter Strafe verboten war, sich zu rühren. So konnte in den Schlafsälen eine große Gruppe von nur einer Aufsichtsperson mühelos unter Kontrolle gehalten werden. Der Rest der Belegschaft hatte unterdessen Zeit für andere Tätigkeiten.

Kinder auf dem Weg zur Kur auf Norderney. Auch dort ist eine Einrichtung von der Stadt Bottrop zusammen mit anderen Kommunen betrieben worden.
Kinder auf dem Weg zur Kur auf Norderney. Auch dort ist eine Einrichtung von der Stadt Bottrop zusammen mit anderen Kommunen betrieben worden. © Stadtarchiv Bottrop

In einigen Bundesländern erhielten Amtsärzte für die Zuführung von Kindern zu den Kuren Prämien. Profiteur war auch die Deutsche Bahn. Sie setzte für die Kindertransporte Sonderzüge ein. Ein lohnender Zuverdienst zum normalen Reiseverkehr.

Die Analyse der Strukturen zeigt auch, dass die Behörden der damaligen Zeit Hand in Hand arbeiteten. Die Kommunen betrieben teilweise sogenannte Entsende- und Ausgleichsstellen, die für die gleichmäßige Verteilung der Kinder auf die Heime sorgten. Darüber hinaus kümmerten die Betreiber der Heime, wie Caritas, Diakonie oder Rotes Kreuz, sich selbst um „Nachschub“. Sogenannte Gemeindeschwestern gingen teilweise von Haus zu Haus und warben dafür, dass Eltern ihre Kinder anmeldeten.

Misshandelt in der Kinderkur: So bekommen Betroffene Hilfe

Zum Ausklang der Veranstaltung am Dienstag ging es vor allem darum, was Betroffene tun können, um konstruktiv mit ihren Erfahrungen umzugehen. Auch hierzu macht der Verein „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW“ Angebote. Letztes Jahr fand ein Begegnungstag in Dorsten statt, an dem 120 Betroffene teilnahmen. „Dabei ging es uns nicht um Betroffenheitslyrik, also darum, möglichst intensiv von den schlimmen Erfahrungen zu berichten, sondern an diesem Tag wurden viele Workshops angeboten, die allesamt positiv ausgerichtet waren. Schwerpunkt Musik, Tanz und Kunst. Das wurde von den Teilnehmern als sehr wohltuend erlebt“, erläutert Detlef Lichtrauter das Konzept.

An diesem Aspekt des Umgangs mit den Erfahrungen zeigten auch die Bottroper am Dienstag großes Interesse. Einige erzählen, dass sie sehr zwiespältig sind in Bezug auf die Orte, an die sie verschickt wurde. Waldbreitbach, Norderney, Allgäu. Sie fragen sich, ob und wie es möglich ist, aus der Auseinandersetzung mit dem Thema Kraft zu schöpfen. Schon jetzt bietet „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW e.V.“ regelmäßig Workshops an, darunter auch Resilienztrainings und eine Schreibwerkstatt. Es gibt ferner Pläne für einen Hilfsfonds, aus dem nachhaltige Angebote für Betroffene finanziert werden sollen.

Auch der Paritätische will einen Beitrag leisten. „Ab dem 21. Mai können sich Betroffene jeden dritten Dienstag im Monat von 17 bis 18.30 Uhr im Haus der Vielfalt auf der Gerichtsstraße 3 bei einem Treffen auszutauschen“, bietet Friederike Lelgemann, die Ansprechpartnerin des Selbsthilfe-Büros Bottrop, an.