Bottrop. Der Verein Kinderverschickung NRW arbeitet die Misshandlungen in Kinderkurheimen zwischen 1950 und 1990 auf. Die Aufklärung steht nach am Anfang.

Im Januar 2021 ist der Verein Verschickungskinder NRW gegründet worden. Vorsitzender Detlef Lichtrauter ist selbst als Zwölfjähriger verschickt worden und hat Misshandlungen erlebt. Im Interview spricht er über die Aufgaben des Vereins, die Chancen auf Entschädigungen für Verschickungskinder und die Frage, warum das Leiden tausender Mädchen und Jungen erst jetzt aufgearbeitet wird.

Herr Lichtrauter, was haben Sie selbst bei Ihrer Verschickung in das Haus Bernward in Bonn-Oberkassel erlebt?

Ich bin 1973 als Zwölfjähriger verschickt worden. Ich habe in diesem Heim verschiedene Formen von physischer und psychischer Gewalt erlebt. Schon die erste Ansprache einer dieser Tanten nach der Ankunft war so aggressiv, herrisch, kalt. Wir wissen mittlerweile, dass wir Psychopharmaka bekommen haben, mit denen wir ruhiggestellt worden sind. Es ist auch erwiesen, dass der Leiter des Heims, Dr. Otto Müller, uns mit Spritzen sediert hat. Ich habe mitbekommen, wie die Bettnässer bloßgestellt und ihnen Spritzen mit destilliertem Wasser in den Körper gerammt wurden.

Wann haben Sie sich entschieden, in die Öffentlichkeit zu gehen?

Ich war ungefähr 50 Jahre alt, als ich permanent von Alpträumen geplagt war. Für mich unerklärlich tauchten plötzlich wieder diese alten Bilder in meinem Kopf auf. Ich habe angefangen zu forschen und mit dem Bonner Stadtarchivar über das Haus Bernward gesprochen. Ungefähr zehn Jahre später hat der Report Mainz zu dem Thema recherchiert und Kontakt mit mir aufgenommen. Wir haben dann vor Ort im Haus Bernward gedreht, das war wirklich ganz, ganz schwierig. Nach dem Fernsehbericht rief Anja Röhl mich an, die die Bundesinitiative „Verschickungskinder“ mitgegründet hat. Sie hat mich gefragt, ob ich die Arbeit des Landeskoordinators für NRW übernehmen kann.

Wie viele Kinder haben Ähnliches erlebt wie Sie?

Laut der Kurzstudie von Marc von Miquel, die das NRW-Sozialministerium veröffentlicht hat, wurden zwischen 1950 und 1990 1,8 Millionen Kinder aus Nordrhein-Westfalen verschickt. Empirisch lässt sich nicht sagen, wie viele Kinder misshandelt worden sind, nach den uns bisher vorliegenden Berichten war es tendenziell die überwiegende Mehrheit. Unser Verein betreut 720 Betroffene in NRW. Allein in das Haus Bernwald, in dem ich Dr. Otto nachweislich Kinder misshandelt und sediert hat, sind jährlich fast 500 Mädchen und Jungen geschickt worden.

Was war das für eine gesellschaftliche Atmosphäre nach dem Zweiten Weltkrieg, in der solche Taten möglich waren?

Es gab eine starke Obrigkeitshörigkeit. Wenn etwas vom Amt oder vom Arzt kam, dann wurde das nicht in Zweifel gezogen. Und wenn die Kinder von Übergriffen berichteten, haben die Eltern gesagt: Das war doch ein Arzt, der macht so was nicht, das fantasierst du dir zurecht. Das waren Götter in Weiß.

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Seit drei Jahren ist der Verein Verschickungskinder NRW aktiv. Was ist Ihre Hauptaufgabe?

Wir wollen aufarbeiten, wir wollen aufdecken und öffentlich machen. Wir wollen wissen, welche Mitwissenden damals nicht eingeschritten sind, welche Ämter und Fachkräfte ihre Kontrolle nicht ausgeübt haben. Wir sehen die Aufarbeitung aber auch als wesentlichen Punkt eines modernen Kinderschutzes. Heutige Prävention ist ohne Aufarbeitung nicht möglich. Der zweite Schwerpunkt ist die Unterstützung und die Resilienzstärkung der Betroffenen. Da haben wir ein breites Angebot.

Außerdem hat sich vergangenes Jahr der Runde Tisch unter der Federführung von Sozialminister Karl-Josef Laumann konstituiert. Wir Betroffenenvertreter versuchen da die Belange der Verschickungskinder bestmöglich zu vertreten. Im Sommer wird eine Archivfachtagung stattfinden, um den Brückenschlag zur Wissenschaft zu vollziehen.

Während die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in den vergangenen 15 Jahren stark vorangetrieben wurde, steht die Aufarbeitung der Misshandlungen in Kinderkurheimen noch am Anfang. Warum hat es so lange gedauert, bis die Betroffenen an die Öffentlichkeit gegangen sind und sich Gehör verschafft haben?

Fast jeder von uns hat in seiner eigenen Blase gelebt. Man war unter Umständen heute Opfer und am nächsten Tag Täter. Ein Beispiel: In einigen Heimen mussten Kinder um Bettnässer einen Kreis bilden und sie verhöhnen und auslachen. Zum Teil wurden sie aufgefordert, sie zu schlagen und zu bespucken. An einem Tag stehe ich in der Mitte und bin Opfer. Am nächsten Tag bin ich trocken und ein anderes Kind ist nass. Dann werde ich dazu gezwungen, mich über dieses Kind lustig zu machen, werde also zum Täter. Das hatte zur Folge, dass es so gut wie keine Freundschaften zwischen den Kindern gab. Viele Betroffene sagen: Ich dachte, das sei nur mir passiert. Dieser Satz wiederholt sich immer wieder. Wenn die Betroffenen ihren Eltern von den Erlebnissen erzählt haben, haben viele ihren Kindern nicht geglaubt. Ich selbst habe erst nach 20 Jahren mit meiner Mutter darüber sprechen können. Und ihre Reaktion war: Detlef, war das wirklich so schlimm? Ich nehme ihr das nicht übel, weil es passte einfach nicht in ihre Vorstellungswelt.

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Welche Chancen auf Entschädigung haben Betroffene?

Wir haben immer gesagt: Die Entschädigung steht gar nicht auf unserer Agenda. Aus dem einfachen Grund, weil viele von uns ihre Verschickung gar nicht belegen können. Die Akten sind längst vernichtet. Wir sind aber jetzt dabei, uns schlau zu machen, da diesbezüglich immer mehr Anfragen aus der Community an uns gerichtet werden. Das Thema ist noch nicht zu Ende gedacht.

Kontakt für Betroffene

Wer selbst als Verschickungskind misshandelt worden ist, Hilfe oder Austausch sucht, kann Kontakt zum Verein Verschickungskinder NRW aufnehmen.

Ansprechpartner sind zu finden unter www.kinderverschickungen-nrw.de/hilfe. Dort sind auch die verschiedenen Selbsthilfegruppen aufgelistet. Detlef Lichtrauter steht auch als direkter Kontakt zur Verfügung: Detlef.Lichtrauter@akv-nrw.de, Rufnummer: 01631328215.