Bottrop. Städte haben nach dem Zweiten Weltkrieg eigene Kinderkurheime betrieben. Die Geschichte vom Bottroper Haus in Waldbreitbach im Westerwald.

Ein Aufenthalt an dem Kurort an der Wied sei wie ein Lottogewinn gewesen in den 1950er Jahren, so schreibt es der Autor Wilfried Krix in einem Aufsatz im Jahr 2016 über das Erholungsheim der Stadt Bottrop in Waldbreitbach, einem Dorf im Westerwald. Denn damals, so schreibt es Krix, war an Urlaub in der Regel nicht zu denken. Erholung erlebten viele Kinder in der Einrichtung allerdings nicht; Betroffene berichten von Misshandlungen und zwanghaftem Essen.

Während des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1943, hatte die Stadt Bottrop ihr Waisenhaus in der Innenstadt evakuiert und die Mädchen und Jungen nach Waldbreitbach geschickt. 1948 kaufte die Stadt das Haus in der Dorfmitte und richtete dort ein Erholungsheim ein. Die erste Kur startete am 15. November 1948 mit 20 Tuberkulose-gefährdeten Kindern. Geleitet wurde das Haus von den Vorsehungsschwestern, einem kleinen Münsteraner Orden. Oberstadtdirektor Franz Reckmann sagte damals, die Schwestern würden „außerordentlich billig wirtschaften und auch nur ein geringes Entgelt dafür bekommen“.

Städte betrieben eigene Kinderkurheime: Eine „Medizinindustrie“

Die meisten Kinder waren in den 50er und 60er Jahren zur Gewichtszunahme in Waldbreitbach. Am Ende ihres Aufenthaltes habe es eine „Abschlusswiegung“ gegeben, bei dem das Kind, das am meisten zugenommen hatte, wie ein „Klassenbester“ gefeiert wurde, schreibt Wilfried Krix. Was in dem Aufsatz wie ein positiver Wettbewerb geschildert wird, war für viele Kinder ein Grauen. Die Bottroperin Bärbel Löbert, die etwa 1960 in dem Heim war, hat erlebt, wie ihre Tischnachbarin so lange essen musste, bis sie erbrach – und dann einige Löffel ihres Erbrochenen weiter zu sich nehmen musste.

Waldbreitbach im Westerwald hat heute knapp 2000 Einwohner.
Waldbreitbach im Westerwald hat heute knapp 2000 Einwohner. © WAZ | Stadtarchiv Bottrop

Warum betrieben Städte eigene Kinderkurheime? Die Krankenkassen zahlten tägliche Pflegesätze pro Kind. Anja Röhl, Mitgründerin der Initiative Verschickungskinder sprach im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ vor zwei Jahren von einer „Medizinindustrie“. Sie hat beispielhaft für das Jahr einen jährlichen Maximalumsatz von 225 Millionen DM bei 56.000 bundesweiten Heimplätzen errechnet. Es ist zudem erwiesen, dass in Baden-Württemberg Ärzte Sondervergütungen von der Landesversicherungsanstalt erhielten, wenn sie Kuren verschrieben.

Kinderkurheim im Westerwald wird zum Zuschussgeschäft

Die Stadt Bottrop war neben dem eigenen Heim in Waldbreitbach auch zusammen mit Buer, Gladbeck, Osterfeld und Recklinghausen mit dem Landkreis Recklinghausen Trägerin des Vestischen Kinderheims auf Norderney. Die Einrichtung im Westwald erwies sich jedoch letztlich nicht mehr als rentabel. 1979 entschied der Orden der Vorsehungsschwestern, die Nonnen aus Altersgründen abzuziehen. Die Ruhrnachrichten schrieben damals, dass sich der Sozialdezernent bei der Verabschiedung für die „aufopfernde Arbeit der Vorsehungsschwestern“ bedankte.

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Weil mit dem Weggang der Nonnen die Betriebskosten deutlich zu steigen drohten, empfahl die Beigeordneten-Konferenz dem Bottroper Schulausschuss, das Haus zu verkaufen. Der Ausschuss lehnte allerdings ab. Stattdessen ging die Heimleitung an eine Hauswirtschaftsmeisterin über, das Kurheim wurde zum Landschulheim, die Auslastung sollte verdreifacht werden. Nichtsdestotrotz war das Haus ein Zuschussgeschäft.

1989 verkaufte die Stadt Bottrop das Kinderkurheim. Die Pläne einer Immobilienfirma, dort eine Steuerberaterschule einzurichten, scheiterten, das Gebäude stand zwei Jahrzehnte leer, bis es 2008 abgerissen wurde.