Bottrop. Seit ihrer Flucht aus der Türkei arbeitet die fünfköpfige Familie Adirbelli an ihrer Integration in Bottrop. Dennoch droht ihnen die Abschiebung.

Emin Adirbelli ist zehn Jahre alt und hat Angst. Er war vier Jahre alt, als in seiner Heimat in Idil in Südost-Anatolien der Bürgerkrieg ausbrach zwischen Türken und Kurden. Und er kann sich sehr gut erinnern. „Ich habe die Raketen gehört und die Toten gesehen.“ Jetzt soll der junge Kurde mit seiner Familie zurückkehren in die Türkei. Ein Unterstützerkreis will das verhindern, und Emin hofft inständig, dass das gelingt: „Ihr müsst uns beschützen!“

Die Flucht kurdischer Familien aus Idil und anderen Regionen an der Nordgrenze zum Bürgerkriegsland Syrien ist eine traurige Tradition seit 1984. Der seit der türkischen Staatsgründung 1923 schwelende Konflikt mit der größten ethnischen Minderheit im Land führte damals zum bewaffneten Kampf der kurdischen Arbeiterpartei PKK und zur ersten großen Welle kurdischer Flüchtlinge vor allem nach Schweden und Deutschland.

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Der Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 hat den Konflikt wieder zum heißen Krieg gemacht. Nicht nur in Syrien und im Nordirak führen türkische Truppen Krieg gegen kurdische Einheiten, auch immer mal wieder im eigenen Land. Einer von vielen grausigen Höhepunkten dieses Bürgerkrieges war im Februar 2016 die „Schlacht um Idil“, wo türkische und kurdische Truppen sich blutige Straßenschlachten lieferten.

Türkische Truppen setzten Kampfhubschrauber mit schweren Lenkwaffen ein. Nach unbestätigten Angaben gab es in wenigen Wochen Tausende Tote. Ganze Straßenzüge wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die vorwiegend kurdische Bevölkerung der einst 30.000 Einwohner zählenden Stadt machte sich zu Tausenden auf die Flucht, so lange sie noch oder sobald sie wieder konnten: Eine Zeit lang machte das türkische Militär Idil zur Sperrzone: Keiner kam rein, keiner kam raus.

Seit Februar 2019 leben die Adirbellis in Bottrop

Unter den kurdischen Flüchtlingen waren auch Botan Adirbelli, seine Frau Vesile, Sohn Emin und Tochter Ecrin, heute neun Jahre alt. Nach Stationen in Flüchtlingslagern im Nahen Osten kam die Familie im November 2018 nach Deutschland. Seit 2019 leben sie in Bottrop, wo auch Sohn Umut (vier) zur Welt kam. Hier begannen die Adirbellis ein Leben, das als Beispiel dienen kann für die „nachhaltige Integration“, die der deutsche Gesetzgeber von Zugewanderten fordert als Berechtigung dafür, in Deutschland bleiben zu dürfen.

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Vater Botan Adirbelli sorgt, wie es das Aufenthaltsgesetz fordert, für den Unterhalt der Familie. Seine Nacht ist morgens um zwei zu Ende. Dann fährt er zu einem Fleischverarbeiter als Neuss, lädt zentnerschwere Paletten Fleischwaren in seinen Transporter und beginnt mit der Auslieferung.

Der Schock kam im April: Asylantrag abgelehnt

Emin und Ecrin gehen zur Schule, Umut in die Kita. Die Kinder sprechen fließend Deutsch, sind beliebt bei Mitschülern und Nachbarn. „Ein pfiffiges Kelchen“, nennen sie den Zehnjährigen. Die Adirbellis hatten eine Duldung, eine Arbeitserlaubnis, der Asylantrag war gestellt. Alles gut? Ja, bis April. Dann kam das Schreiben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Asylantrag abgelehnt. Für Umut, den Vierjährigen, mussten die Adirbellis einen eigenen Antrag stellen, weil er in Deutschland geboren ist. Er wurde übrigens auch abgelehnt.

Die Familie Adirbelli mit Unterstützern, die ihnen helfen wollen, die Abschiebung zu vermeiden.
Die Familie Adirbelli mit Unterstützern, die ihnen helfen wollen, die Abschiebung zu vermeiden. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Es hat die Adirbellis kein bisschen getröstet, dass sie mit dieser Ablehnung nicht alleine sind. „Bis Ende des Jahres 2022 suchte mit fast 24.000 türkischen Staatsangehörigen eine Rekordzahl Schutz in Deutschland“, schreibt die Flüchtlingshilfsaktion „pro asyl“ in ihrem Jahresbericht. Bezeichneten sich die Flüchtlinge als Türken, habe das BAMF in 81 Prozent der Fälle Asyl gewährt. Bezeichnen sie sich dagegen als Kurden, beträgt die Erfolgsquote nur zwölf Prozent.

„Ein Trend, der sich in den letzten Jahren verschärft hat“, sagen die Flüchtlingshelfer und kommentieren: „Je mächtiger die türkische Regierung (geo-)politisch ist, desto schlechter steht es nicht nur in der Türkei um Oppositionelle, sondern auch in Ländern wie Deutschland, in denen sie Schutz suchen.“

Bottroper Ausländerbehörde lädt ein „zur Vorbereitung Ihrer Ausreise“

Ende Juli bekamen die Adirbellis dann Post von der Bottroper Ausländerbehörde mit einer Vorladung „zur Vorbereitung Ihrer Ausreise“. Und weiter: „Sollten Sie dieser Einladung nicht folgen, muss ich auf Ihre Weigerung zur freiwilligen Ausreise schließen.“ Das Wort Abschiebung stand nicht in diesem Schreiben, aber genau davor lebt die Familie jetzt in Angst: Kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember, endet ihre Duldung.

Rechtsanwalt Frank Jasenski von der Gelsenkirchener Kanzlei Meister und Partner hat Ende August für die Familie einen Antrag auf „Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration“ gestellt. Seitdem, klagt er, habe er von der Ausländerbehörde „nichts Qualifiziertes mehr gehört“. Gleiches galt für den Antrag auf Wiedererteilung der inzwischen entzogenen Arbeitserlaubnis.

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Wenigstens das hat sich diese Woche geändert. Die Ausländerbehörde hat den Eingang des Antrags bestätigt und weitere Nachweise gefordert. „Ausgerechnet die letzten Lohnabrechnungen“, sagt Jasenski. „Dabei wissen sie doch am besten, dass er ohne Erlaubnis gar nicht arbeiten darf und der Arbeitgeber ein Riesenproblem bekommen kann, wenn er ihn ohne Arbeitserlaubnis beschäftigt.“

Bottroper Behörde stellt Duldungsverlängerung in Aussicht

Jasenski ist sehr zuversichtlich, dass die Adirbellis die insgesamt fünf Kriterien für eine Aufenthaltsgewährung nachweisen können, jetzt, wo das Verfahren offenbar in Fahrt kommt. Auch auf WAZ-Anfrage antwortet die Bottroper Behörde jetzt. Zunächst hatte sie mitgeteilt, zum laufenden Verfahren gebe es keine Auskünfte.

Jetzt meldet Stadtsprecherin Sarah Jockenhöfer auf eine erneute Nachfrage zurück: „Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist noch in Prüfung. Es werden noch Unterlagen angefordert. Sollte der Antrag bis zum 21. Dezember nicht beschieden werden können, so werden die bestehenden Duldungen der Familie verlängert.“ Die Adirbellis dürfen also hoffen, unterm Weihnachtsbaum keine Abschiebe-Verfügung zu finden.