Bochum/Herne. Elena wog bei ihrer Geburt 425 Gramm. Heute ist das Mädchen acht Jahre alt und rundum gesund. Am Weltfrühchentag soll ihr Fall Eltern Mut machen.
Fäustchen wie die Fingerkuppe eines Erwachsenen; die zarten Augenlider wie gemalt. Über dem Näschen sitzt eine Maske, die beim Atmen hilft. Viel mehr ist von dem winzigen Körper nicht zu erkennen, er liegt hinter einer Plastikscheibe in einem Nest aus Decken. Schläuche winden sich um ihn herum. Der kleine Patient schläft. Er weiß gar nicht, dass er gerade bestaunt wird.
„Ist der klein ...“ Elena lag auch mal in so einem Kasten, vielleicht sogar im selben. Auch sie wurde im Bochumer St. Elisabeth-Hospital geboren und war mit 425 Gramm noch leichter als dieses Frühchen, das gerade auf der Neonatologie, der Neugeborenen-Intensivstation, betreut wird. Heute ist Elena acht Jahre alt. Sie geht zur Schule, lernt gerade Gitarre spielen, lebt ein gesundes, selbstständiges Leben. Am Weltfrühchentag, der jedes Jahr auf den 17. November fällt, soll ihr Fall betroffenen Eltern Mut machen.
Elena aus Herne wurde 14 Wochen zu früh geboren
Elenas Mutter, Katharina Koziol, war 37, als sie mit ihrer Tochter schwanger wurde. Im sechsten Monat schlug die Frauenärztin Alarm: zu hoher Blutdruck. Sie schickte ihre Patientin in das Krankenhaus, in dem diese ursprünglich entbinden wollte. „Dort wurde quasi nichts gemacht mit Elena und mir“, erzählt Katharina Koziol. In den zwei Wochen, die sie in der Klinik verbrachte, ging es ihr immer schlechter. Koziols entschieden sich, ins St. Elisabeth-Hospital nach Bochum zu wechseln. „Erst dort habe ich gemerkt, dass wirklich etwas nicht stimmt. Das hat mir vorher niemand so vermittelt.“
Nur zwei Tage später mussten die Ärzte Elena holen, per Kaiserschnitt. Am Abend durfte Katharina Koziol ihre Tochter zum ersten Mal sehen, nach zwei Wochen zum ersten Mal halten. Vorher ist die Haut so kleiner Frühchen zu empfindlich, die Hornschicht muss sich erst bilden. In den Tagen nach der Geburt atmete Elena selbstständig, dann gab es Komplikationen. „Als sie auf die Neonatologie kam, dachte ich, es wäre vorbei“, erinnert sich ihre Mutter. Elena musste voll beatmet werden. „Ich durfte sie nicht berühren, aber ich sollte da sein, mit ihr sprechen. Das habe ich gemacht – von morgens bis nachts.“ Monatelang.
Nicht alle Frühchen entwickeln sich so gut wie Elena
Nach 16 langen Wochen konnte Elena entlassen werden. Als sehr kleines Frühchen war sie noch bis zu ihrem sechsten Lebensjahr in der Frühchen-Nachsorge. Ziel ist es, Auffälligkeiten in der Entwicklung zu erkennen und mit gezielter Förderung gegenzusteuern. Früher hatte Elena Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht, manchmal noch Probleme mit der Konzentration, erzählt Katharina Koziol, die selbst Grundschullehrerin ist. Um ihr beim Lernen mehr Zeit zu geben, wurde das Mädchen in der Schule ein Jahr zurückgestellt. Andere Einschränkungen hat sie heute nicht mehr. Sie ist aufgeweckt, neugierig, auch was ihren außergewöhnlichen Start ins Leben angeht. „Mama, musste ich alleine im Krankenhaus bleiben?“, will sie wissen. Oder: „Mama, warum durftest du mich nicht anfassen?“
Als Frühchen gelten Kinder, die vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche geboren werden. In Deutschland gibt es jährlich rund 65.000 Fälle. Elena gehört zu den fünf leichtesten Frühchen, die bisher auf der „Neo“ im St. Elisabeth-Hospital lagen und überlebt haben. Jedes dritte Kind, das so früh zur Welt kommt wie sie, schafft es nicht. Und nicht alle Kinder, die durchkommen, entwickeln sich so gut.
Dr. Norbert Teig, ärztlicher Leiter der Neonatologie im St. Elisabeth-Hospital, erklärt: „In Deutschland haben Kinder, die ab der 28. Schwangerschaftswoche geboren werden, eine recht ungetrübte Langzeitentwicklung. Das Risiko für Komplikationen steigt aber mit jeder Woche, die ein Kind früher geboren wird.“ Eines von sechs Kindern, die um die 24. Schwangerschaftswoche geboren werden, behält schwere geistige oder motorische Beeinträchtigungen zurück.
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Warm, gemütlich, ruhig: Wohlfühlatmosphäre ist für Frühchen wichtig
Besuch auf der Frühchenstation – für Katharina Koziol eine „Reise in die Vergangenheit“. Als sie den Flur betritt, der zur „Neo“ führt, fasst sich die 46-Jährige an die Brust und die Hand ihrer Tochter fester: „Mein Gott, dieser Geruch …“ Sterilium. Den verbinde sie noch immer mit den Besuchen bei Elena. In Zimmer sechs, wo Elena damals zuerst untergebracht war, trifft man sich: Schwester Susanna, seit über dreißig Jahren Kinderkrankenschwester, hat damals auch Elena betreut. „Es ist schön, wenn Kinder noch mal wiederkommen“, findet sie. „Da sieht man, dass es sich lohnt.“
Schwester Susanna kümmert sich gerade um ein Frühchen, das erst ein paar Tage alt ist. Im Zimmer ist es mollig warm, das einzige Licht geht von den Monitoren aus, die die Vitalwerte des Winzlings überwachen. „Wir versuchen, alles möglichst so zu machen, wie es im Uterus auch wäre.“ Warm, gemütlich, ruhig. Deshalb auch die Lärmampeln, die auf rot springen und ein böses Gesicht zeigen, wenn es im Zimmer zu laut wird. In den Bettchen der kleinen Patienten liegen Kuscheltiere in Krakenform. An den Tentakeln halten die Babys sich fest, wie an der Nabelschnur im Bauch der Mama.
Eltern können viel für ihre Frühgeborenen tun
„Hier haben sich alle so gut um dich gekümmert“, flüstert Katharina Koziol ihrer Elena ins Ohr und drückt sie an sich. Beim Anblick des kleinen Frühchens kommt vieles hoch, sagt sie. Auch die Frage nach dem Warum, die sich viele Eltern stellen: „Man hat das Gefühl, dass man sein Kind nicht gut versorgen kann.“ Um die Ohnmacht, die Eltern oft quält, wissen auch die Ärzte. „Insbesondere die Mütter fühlen sich schuldig daran, dass es zu einer Frühgeburt gekommen ist“, so Dr. Norbert Teig. „Das ist falsch, die meisten Schwangeren haben keine besonderen Risiken und trotzdem lassen sich Frühgeburten nicht vermeiden.“
Wickeln, Stillen, Kuscheln – all das bleibt Frühchen-Eltern erst einmal verwehrt. Um ihnen das Gefühl der Hilflosigkeit zu nehmen, sei es wichtig, die Eltern so gut es geht in die Versorgung ihres Kindes einzubeziehen. Nicht umsonst flankieren zwei Känguru-Aufkleber die Türen zur Frühchen-Station: Eine bewährte Methode ist das „Känguruhen“, bei denen die Kleinen ihren Vätern oder Müttern auf die Brust gelegt werden. „Lange Zeit hat sich die Medizin nur auf die Kinder konzentriert, die Eltern waren nur Beiwerk“, erläutert Teig, der in seinen dreißig Jahren im Beruf schon tausende Frühchen betreut hat. Mittlerweile wisse man, wie wichtig die Eltern-Kind-Bindung für die Entwicklung von Frühchen sei.
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Überall auf der Station hängen Bilder von Kindern, die mal dort betreut wurden und zu gesunden Kindern heranwuchsen. Katharina Koziol seufzt, als sie sie sieht: „Wie oft stand ich davor und dachte: Schau dir dieses Kind an, das war noch kleiner und hat es auch geschafft.“ Heute sind es Elenas Bilder an der Wand, die Eltern zeigen: Es kann alles gut werden.
>>> INFO: Perinatalzentrum Bochum
- Ein Perinatalzentrum vereint Geburtshilfe und Kinderklinik unter einem Dach. Weil es bestimmte personelle und technische Voraussetzungen erfüllt, gilt das St. Elisabeth-Hospital in Bochum als Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe („Level 1-Zentrum“).
- Der Vorteil für Eltern: Kreißsaal und Neonatologie (Neugeborenen-Intensivstation) liegen Tür an Tür. Die Kinder bleiben auf der „Neo“, bis sie entlassen werden. Eine Verlegung oder Wechsel des Pflegeteams bleiben ihnen erspart.