Bochum.
Als Irma Ruckes geboren wurde, zerrissen Granaten die Männer zu Tausenden auf den Feldern Flanderns. Der 1. Weltkrieg strebte seinem blutigen Höhepunkt entgegen und die verschlafene Gemeinde Linden im Kreise Hattingen freute sich über den ersten Personenzug, der auf der Strecke Essen – Hagen am neuen Bahnhof Dahlhausen Station machte. Große – kleine Welt.
94 Jahre alt ist Irma Ruckes und es bedurfte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis sie sich zum Reden entschloss – nicht über die Kaiserzeit, nicht die Weimarer Republik. Nein, es ist die Zeit des Faschismus, die Zeit, die ihr Leben für immer verändern sollte. „Nach dem Krieg gab es das Schweigen über diese Zeit. Schnell drängten sich andere Dinge in den Vordergrund“, erzählt Irma Ruckes, deren Körper gebrechlich aber deren Verstand wach und mit einer präzisen Erinnerung versehen ist.
Mit dabei an diesem kalten Nachmittag in Linden ist Dr. Hubert Schneider. Seit mehr als 20 Jahren spürt der mittlerweile pensionierte Historiker jüdischen Spuren in Bochum nach. Es ist das Geburtshaus von Irma Ruckes, das Jahre nach einem verhängnisvollen Bombenangriff am 9. Oktober 1944 wieder aufgebaut wurde. Ihr Mann, ein junger Chirurg am Knappschaftskrankenhaus kam damals ums Leben und Irma Ruckes, 26-jährig mit einem Kleinkind auf dem Arm, blieb zurück. Darüber möchte sie nicht sprechen. Das sind ihre persönlichen Gründe. Sie schweigt bis heute über Namen von Menschen, die sich hervortaten beim Plündern jüdischer Geschäfte nach dem Novemberpogrom. Damals als der Mob die Häuser Lipper, Adler, Pohly und anderer in Linden heimsuchte „Da Leben noch Angehörige, Sie werden verstehen . . .“
Flucht in die Schweiz
Doch Irma Ruckes, Tochter des einstigen Leiters der städtischen Verwaltungsstelle in Linden, Richard Eggemann, berichtet, zögernd zunächst über ihren Vater, einen korrekten preußischen Beamten, an den sich etliche der von Verschleppung und Verfolgung bedrohten ehemals angesehenen jüdischen Menschen Lindens in ihrer Not wandten. So kam eines Tages Geschäftsmann Oskar Lipper ins Esszimmer des Eggemannschen Hauses. „Ja, das Kaufhaus Lipper, da konnte man blind alles kaufen, so gut war die Qualität.“ Sie schildert folgende Begebenheit. Richard Eggemann begrüßte Oskar Lipper wie gewöhnlich per Handschlag:
Lipper: „Wie, Sie geben einem Juden die Hand...?“
Eggemann: „Für mich bleiben sie wie eh und je Herr Lipper!“
Eggemann habe Oskar Lipper auf dessen Frage, was er nur tun könne, dringend geraten zur Tochter Martha, die damals bereits in der Schweiz wohnte, zu flüchten. „Mit kleinem Gepäck, damit es wie ein Besuch aussehen sollte“, erinnert sich Ruckes an die Worte des Vaters. Das Ehepaar entkam über die Schweiz später nach Amerika.
Wertvolle Zeugnisse
Bekannt war bisher, dass Else Adler, aus der bekannten Lindener jüdischen Familie Röttgen, im März 1942 in den unbesetzten Teil Frankreichs flüchtete. Doch über die näheren Umstände gab es bislang keine Informationen. Im Wohnzimmer des Hauses Eggemann/Ruckes sprach Else Adler, die dort nach dem Krieg bei ihrem Wiedergutmachungsverfahren Hilfe suchte und Unterstützung fand, davon. Irma Ruckes erinnert sich: „Frau Adler gelang die Flucht einem mit Luftlöchern präparierten Sarg. Das hat der Lindener Kohlenhändler und Totengräber Mersch getan. Bei ihm gab Else Adler auch ihre Wertsachen in Verwahrung. Nach dem Krieg bekam sie alles wohlbehalten zurück.“
Was keine Selbstverständlichkeit war, wie Hubert Schneider aus anderen Quellen weiß. Für den Historiker sind Erinnerungen wie die von Irma Ruckes äußerst wertvolle Zeugnisse. „Das sind ganz unmittelbare Berichte über die Atmosphäre in der Nazi-Zeit, vor allem die Angst und das Misstrauen anderen Menschen gegenüber.“