Bochum. Grundschüler verprügeln ihre hilflosen Eltern: Derartige Fälle begegnen der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bochum. Wovor der Chefarzt warnt.
Ängste, Depressionen, Essstörungen, Medienabhängigkeit: Durch die Corona-Pandemie hat sich die Zahl psychisch kranker Kinder und Jugendlicher deutlich erhöht. Umso wichtiger ist die therapeutische Arbeit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Linden. Die stand kurz vor dem Aus, gilt nun mit einem neuen Träger aber als gesichert – und will sich in Bochum breiter aufstellen.
Kinder- und Jugendpsychiatrie: Klinik in Bochum ist gesichert
Seit mehr als 30 Jahren finden junge Seelen zwischen sechs und 18 Jahren in der Klinik an der Axstraße Hilfe. Die schien in Gefahr, als der Helios-Konzern 2020 das nach eigenen Angaben nicht mehr rentable St.-Josefs-Hospital schloss. Was tun mit der dazugehörigen Kinder- und Jugendpsychiatrie? Die wurde nach dem Helios-Aus zwar fortgeführt. „Wir bangten aber lange um unsere Existenz. Die Ungewissheit war schlimm“, sagt Markus Grave, seit August Chefarzt und Nachfolger von Dr. Andreas Richterich, der zur Uni-Klinik Essen wechselte.
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Als „ideal“ wertet Grave die Entwicklung im vergangenen Jahr. Das Frankfurter Unternehmen ICG hat das komplette, 30.000 Quadratmeter umfassende Areal gekauft. Investitionen in Höhe von 80 Millionen Euro kündigte ICG-Geschäftsführer Jochen Stahl an. Das historische Krankenhaus, in dem derzeit noch ukrainische Flüchtlinge untergebracht sind, wird ab Herbst kernsaniert. 2025 soll hier die Kinder- und Jugendpsychiatrie einziehen. Deren altes Gebäude – das ehemalige St.-Josefs-Schwesternwohnheim – wird abgerissen und schafft bis 2027 Platz u.a. für ein Seniorenzentrum und Wohnbebauung.
Bottroper Valeara-Gruppe führt Angebot in Bochum fort
Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie bedeutet dies nicht weniger als: die Rettung. Denn auch ein neuer Betreiber wurde 2022 gefunden: die Valeara-Gruppe (früher „Zentrum für neurologische und seelische Gesundheit“, ZNS) mit Sitz in Bottrop.
Dass die Klinik kontinuierlich weiterarbeiten konnte und kann, sei ein großes Glück, sagt Markus Grave (56). Für die 120 Mitarbeiter. Vor allem aber für die Pflichtversorgung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen in Bochum.
Corona hat psychische Erkrankungen nochmals befeuert
Deren Zahl steigt seit Langem an. Dabei habe die Pandemie die Entwicklung nochmals befeuert, konstatiert Markus Grave, der der Bochumer Klinik bereits seit 2011 als stellvertretender Leiter angehört. Besorgniserregend klingt die Bestandsaufnahme, die der Facharzt im WAZ-Gespräch vornimmt.
Den Kindern und Jugendlichen fehlten durch Corona, durch die Schließung von Kitas und Schulen, durch die mangelnden Kontakte zu Freunden „zwei wichtige Jahre für eine altersgerechte Entwicklung“, so Grave. Die Folgen seien massiv spürbar:
Magersucht: Betroffene Mädchen werden „immer jünger und dünner“
– Immer mehr Jungen und Mädchen leiden unter Depressionen und Angststörungen, verweigern den Schulbesuch („Schulangst“), isolieren sich, sind antriebslos, vermeiden jedwede sozialen Kontakte.
– ADHS-Erkrankungen führen verstärkt zu Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen. Auch Aggressivität ist ein großes Thema. „Kinder im Grundschulalter verprügeln ihre Eltern. Die sind hilflos und überfordert – und rufen die Polizei“, schildert Grave.
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– Magersucht-Patientinnen (es sind fast ausnahmslos Mädchen) werden „immer jünger und dünner“. Früher seien meist 15- bis 16-Jährige betroffen gewesen. „Heute sehen wir Elf- bis Zwölfjährige mit Essstörungen, die lebensbedrohlich sein können“, warnt der Klinik-Chef vor dem gefährlichen Schönheitswahn, geweckt durch Instagram & Co.
– Corona geschuldet ist auch die wachsende Mediensucht – bei den Jungen meist durch exzessives Daddeln, bei den Mädchen durch 24/7-Nutzung von sozialen Medien. Der Schritt in die Abhängigkeit ist klein.
Klinik in Linden bietet 43 Plätze für stationäre Behandlungen
Die Bochumer Klinik kann zumindest einem Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen zurück ins Leben verhelfen. 43 stationäre Behandlungsplätze stehen dafür zur Verfügung. Das Angebot ergänzt eine Tagesklinik mit 20 Plätzen (bis 13 Jahre) sowie eine Ambulanz für akute Fälle.
Durchschnittlich zehn bis zwölf Wochen verbringen die Kinder und Jugendlichen, die stationär versorgt werden, in der Klinik. Jährlich sind es rund 550. Hinzu kommen 1200 Jungen und Mädchen in der Ambulanz. Zahlen, die dokumentieren, wie groß der Bedarf ist.
Therapeutisches Reiten wird es an der Axstraße nicht mehr geben
Der Umzug in das modernisierte und deutlich größere St.-Josefs-Hospital werde die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bochum „auf ein neues Level stellen“, verspricht Markus Grave. Wichtig sei dabei, dass die Ferdinand-Krüger-Schule vor der drohenden Schließung bewahrt wurde und fortgeführt wird. In der Schule unter dem Dach des alten Hospitals werden die Kinder und Jugendlichen unterrichtet, die für Wochen und Monate therapiert werden müssen.
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Einen Wermutstropfen gibt es doch: Die Stallungen und den Reitplatz auf dem Klinikgelände wird es nach dem Abriss nicht mehr geben. Aktuell wird noch mit zwei Pferden das Therapeutische Reiten durchgeführt. „Wir werden versuchen, dafür einen externen Anbieter zu finden“, kündigt Markus Grave an.
Zusammenarbeit mit Bochumer Vereinen soll verstärkt werden
Ziel sei es grundsätzlich, sich über das Jugendamt und die Jugendhilfeträger hinaus intensiver mit Bochumer Vereinen oder Verbänden zu vernetzen, so Grave. Denn Teil der Therapie sei es auch, den Kindern und Jugendlichen spannende, möglichst sinnstiftende Freizeitangebote abseits des Handys aufzuzeigen. Sportvereine oder Gruppen wie die Pfadfinder könnten Optionen sein.
Infos: valeara.de/bochum