Witten. Kinder und Jugendliche leiden weiter unter der Coronapandemie. Wie sich das ausdrückt und was Eltern tun können, erklärt ein Wittener Psychologe.

Die Schulen sind offen, im Verein darf wieder Fußball gespielt oder geturnt werden – und dennoch fühlen sich immer noch sehr viele Kinder und Jugendliche durch die Coronapandemie psychisch belastet. Das zeigen die jüngsten Ergebnisse einer Befragung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, die sogenannte Copsy-Studie. Wie die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft mit den Herausforderungen der Pandemie umgehen und was Eltern tun können, darüber sprach Stephanie Heske mit dem Wittener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Oliver Staniszewski (59).

Herr Staniszewski, wie geht es Kindern und Jugendlichen aus Ihrer Sicht derzeit?

Es geht ihnen wie wohl auch sonst jedem: Die Situation belastet sie, sie vermissen das sonst Selbstverständliche, dass man sich trifft, sich in den Arm nimmt. Die Sorge vor einer Infektion und deren Folgen begleitet nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche. Bei solchen, die ohnehin vorbelastet sind, verstärkt das natürlich die Probleme.

Was bedeutet das?

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Der Druck auf Familien ist in der Pandemie enorm gestiegen, die Maßnahmen haben sie ja besonders getroffen. Das gilt insbesondere für Kinder in prekären Situationen. Im Einfamilienhaus mit Garten und Trampolin ist man einigermaßen gut durch die Pandemie gekommen. Bei der Alleinerziehenden mit drei Kindern in einer kleinen Wohnung sieht das ganz anders aus. Dann sind auch irgendwann die Ressourcen der Eltern erschöpft.

Kinder- und Jugendlichentherapeut Oliver Staniszewski kennt die Sorgen und Nöte der Jüngsten.
Kinder- und Jugendlichentherapeut Oliver Staniszewski kennt die Sorgen und Nöte der Jüngsten. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Haben sich durch die Pandemie die Krankheitsbilder oder Probleme geändert, mit denen die jungen Menschen zu Ihnen kommen?

Im Prinzip nicht. Aber die Belastung ist gewachsen. Teils ist ja mit geschlossenen Schulen und Kitas die ganze Tagesstruktur weggebrochen. Und auch jetzt geht es weiter: Lehrer sind krank, Unterricht fällt aus, Schüler müssen in Quarantäne und so weiter. Die Schulsituation ist geprägt von Diskontinuität. Und da sollen Kinder ganz normal funktionieren?

Was beschäftigt die jungen Menschen denn am meisten?

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Wie gesagt ist das die Angst oder Sorge vor Ansteckung. Viele meiner Patienten haben Risikopatienten in der Familie. Bei einer Patientin von mir ist es zum Beispiel die Schwester. So etwas ist eine riesige Belastung für die jungen Menschen. Die Jugendlichen sind dann hin- und hergerissen, weil andere wieder Party machen und sie nicht wissen, was sie machen sollen. Das zehrt. Generell ist das Jugendalter ja nicht dafür da, sich ins Familiäre zurückzuziehen, sondern draußen zu sein, sich mit Gleichaltrigen zu treffen.

Auch die Schulsituation ist dann sicher belastend.

Die Frage ist: Wie geschützt sind die Kinder dort? Teilweise gehen sie mit Angst in die Schule. Es ist wirklich ein Skandal und ein ungeheures politische Versagen, was hier in den letzten zwei Jahren passiert ist. Da werden Luftfilter für die Klassen eher blockiert als gefördert. Dann sitzen die Kinder am offenen Fenster im Durchzug und sollen dabei lernen. Auch ist der Leistungsdruck an den Schulen ja nicht weniger geworden.

Kinder und Jugendliche reagieren sicher unterschiedlich auf die Situation.

Ja. Bei Kindern nehmen Ängste zu, wir erleben sogenannte Impulsdurchbrüche. Das heißt, das Kind rastet aus, schreit, beschimpft seine Eltern, tritt und spuckt vielleicht auch nach ihnen. Das heißt aber nicht, dass man ein schreckliches Kind hat. Es ist die Drucksituation. Die Kinder müssen irgendwohin mit ihrem Angsterleben.

Und die Jugendlichen?

Die ziehen sich ins eigene Zimmer, in ihre eigene Welt zurück. Vor allem ins Internet. Oft wurde im Lockdown untereinander nächtelang gechattet. Dieses Verhalten haben einige beibehalten, weil es sich in den letzten zwei Jahren so eingespielt hat. Dann haben sie Jugendliche, die mit vielleicht zwei Stunden Schlaf im Klassenzimmer sitzen.

Das klingt noch recht harmlos.

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Jugendliche reagieren auch mit Selbstverletzungen oder flüchten in Drogen und Alkohol, hinzu kommen Angst und Depressionen. Auch leben sie Gewalt mehr aus. Die Pandemie hat bei den Heranwachsenden eine Entwicklungsveränderung bewirkt: Sie haben die Fähigkeit erlernt, besonders gut allein klar zu kommen. Aber andere Soft Skills, wie etwa Teamfähigkeit, die später wichtig sind fürs Berufsleben, sind auf der Strecke geblieben.

Aber müsste es jetzt nicht aufwärts gehen? Schließlich sind die Schulen offen, die Kontaktbeschränkungen aufgehoben….

Selbst wenn die Pandemie jetzt vorbei wäre, wird uns die verhinderte Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen über Jahre begleiten. Für Dinge, die man erlernt, gibt es bestimmte Zeitfenster. Einiges kann man nachholen, aber es wird schwieriger. Ich gehe davon aus, dass wir viele Probleme sehen werden, die auf diese Phase zurückzuführen sind. Aber: Die Pandemie ist ja noch nicht vorbei. Und das wissen auch die Kinder und Jugendlichen. Also kommen sie innerlich auch nicht zur Ruhe, die Sorgen bleiben.

Was können Eltern denn tun?

Kinder und Jugendliche kommen mit familiärer Unterstützung deutlich besser durch die Pandemie. Eltern sollten aufmerksam sein, aber auch Raum lassen, wenn man merkt, dass etwas nicht stimmt. Generell sollten sie nachsichtig sein, etwa beim Thema Schule. Und mit Geduld, Verständnis und vor allem Herz auf die Probleme der Kinder eingehen. Wichtig ist mir aber auch zu sagen: Viele Kinder und Jugendliche haben in der Krise sehr viel Widerstandsfähigkeit gezeigt, sie finden einen Umgang mit der Pandemie, den ich sehr beeindruckend finde. Es ist eine Herausforderung, mit der unterschiedlich umgegangen wird.