Bochum. Mobbing, Überforderung, Krankheit – es gibt viele Gründe für Schulangst. Und in Bochum eines der raren Gruppen-Angebote für Schulabsentisten.

Seit vier Jahren kümmert sich „Unicus“, ein Tagesgruppen-Projekt der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Vinzenz Bochum um „Schulabsentisten“. Über die Hälfte der Teilnehmenden können nach einem in der Regel neunmonatigen Kurs „erfolgreich ins Bildungssystem zurückgeführt werden“. Vergleichbare Angebote sind bundesweit mindestens rar, ihm sei kein einziges anderes bekannt, sagt Daniel Zerra. Er ist Sozialarbeiter sowie Sozial- und Sexualpädagoge und seit August neuer „Unicus“-Teamchef.Wir sprachen mit ihm über Schulangst. (Lesen Sie Sals Geschichte hier)

Wie verbreitet ist die Schulangst? Und wer ist typischerweise betroffen?

Zerra: Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, das es an jeder Schulform gibt und in jeder sozialen Schicht. Und es sind nicht die „null-Bock-auf-gar-nichts“-Typen, die es trifft; keine Schulschwänzer, die lieber draußen auf der Straße ihren Spaß haben wollen. Oft kommen sehr begabte, vielseitig interessierte und talentierte Jugendliche zu uns, die ihr angstbedingtes Meidungsverhalten komplett in die Isolation getrieben hat, die sich nur noch zuhause verbarrikadieren. Wir merken in der konkreten Arbeit, wie stark die Nachfrage ist, freie Plätze sind sehr rasch vergeben. Deshalb starten wir auch demnächst mit einem weiteren Angebot für Jüngere, „Lumino“.

„Eltern stoßen da schnell an grenzen, es gibt rasch Stress“

Wie sehr hat die Pandemie das Problem verschärft?

Total. Wir sehen das in den Aufnahmegesprächen mit unseren KlientInnen. Viele hatten schon vor Corona Schwierigkeiten im schulischen Kontext, die Pandemie hat das dann noch einmal verstärkt.


Was sind die Hauptursachen für Schulangst?

Sie sind vielschichtig und sehr unterschiedlich. Die SchülerInnen, die wir hier aufnehmen, kommen zum Teil aus hochbelasteten Familien. Familien, in den Krankheit, Tod oder Scheidung Thema sind, Familien, in denen Kinder die Versorgerrolle übernehmen müssen und darüber den Schulbesuch vernachlässigen. Oder sie haben negative Erfahrung im schulischen Kontext gemacht, etwa Mobbing oder fehlende Unterstützung durch LehrerInnen. Manche haben Prüfungs- oder andere soziale Ängste, manche geben anfangs nur dem „Schule schwänzen ist cool“-Druck ihrer Peer-Group nach, andere haben Traumatisches erlebt oder sind neuro-divergent, autistisch oder hochsensibel. Vielen fehlt ein Sicherheitsgefühl an ihrer Schule.

Welche Folgen hat das?

Daniel Zerra leitet seit Anfang Augst das Unicus-Team. Er ist Sozialarbeiter, Sozial- und Sexualpädagoge, steckt zudem gerade in einer Weiterbildung „Kriminlaprävention“
Daniel Zerra leitet seit Anfang Augst das Unicus-Team. Er ist Sozialarbeiter, Sozial- und Sexualpädagoge, steckt zudem gerade in einer Weiterbildung „Kriminlaprävention“ © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Wer Angst vor der Schule hat, lernt schlechter. Das Gefühl, unter Druck funktionieren zu müssen, ist für die Entwicklung eines Kindes dysfunktional. Und wer gar nicht mehr hingeht, verpasst halt auch viel, verlässt die Schule womöglich ohne Abschluss. Das erschwert natürlich seine oder ihre Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Schulen vermitteln zudem Wissenswertes auch über den Schulstoff hinaus. Das zu verpassen, birgt sogar ein gewisses Gesundheitsrisiko, ich denke da an sexuelle Aufklärung oder den Umgang mit Drogen.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn sie merken, ihr Kind geht nicht mehr gern zu Schule?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Unsere Erfahrung zeigt: Eltern stoßen da schnell an ihre Grenzen, es gibt rasch Stress in der Familie und das ist kontraproduktiv. Wenn Eltern merken, die Angst geht nicht wieder weg, ist es ratsam, sich professionelle Hilfe zu suchen, also Kontakt aufzunehmen zu KlassenlehrerInnen oder dem Jugendamt, schulpsychologische Beratungsstellen, kinder- oder jugendpsychiatrische Sprechstunden aufzusuchen.

Wie hilft „Unicus“ betroffenen Kindern und Jugendlichen?

Wir sind weder Schulersatzmaßnahme noch Therapie-Institut, sondern eine pädagogische Einrichtung. Unser Ansatz ist ein psycho-edukativer. Das heißt: Wir bieten unseren TeilnehmerInnen unterschiedliche Möglichkeiten, positive Erfahrungen zu machen, etwa durch Projekte im erlebnis- oder theaterpädagogischen Bereich. Wir haben eine angenehme Lernatmosphäre, ein Lernklima, was komplett losgelöst ist von Bewertung. Wir setzten auch auf Entspannung, als Antagonisten zur als belastend empfundenen Anspannungssituation. Und immer steht der Jugendliche mit seinen Ressourcen und seinen Stärken im Vordergrund.