Wattenscheid. Nach der Insolvenz 2019 war in Wattenscheid auch die Kreisliga Thema. Nun ist die Regionalliga-Rückkehr nah. Ein Rückblick in 09 Schritten.

Regionalliga, Insolvenz – und zurück? Vor 30 Monaten war die SG Wattenscheid 09 am Abgrund, diskutiert wurde über einen Neustart in der Kreisliga. Pfingsten 2022 steht die SG 09 nun vor dem großen Aufstiegsfinale gegen Rheine, kann zurückkehren in die Liga, aus der sie sich 2019 mitten im laufenden Spielbetrieb zurückgezogen hatte.

Auf dem Weg hierher gab es viele besondere Momente, von überraschenden Vertragsverlängerungen bis hin zu emotionalen Jubelszenen. Und immer wieder die Unterstützung der Fans. Wir zeichnen den Weg der SG Wattenscheid 09 nach: In 09 Schritten von einem tristen Novembertag 2019 bis zum großen Aufstiegsfinale 2022.

1. Der Re-Start

Die Kulisse ist deprimierend, die Vision gibt Hoffnung: Im November 2019 sitzen Christian Pozo y Tamayo und Christian Fischer in der Geschäftsstelle und geben dieser Zeitung ein Interview. Draußen spiegelt sich das schwache Licht aus der Stube im Lohrheidestadion in den Pfützen. Drinnen erzählen die beiden Neu-Funktionäre, dass und wie sie den Verein aufbauen wollen. Für die SGW bekommt der Begriff Re-Start eine Bedeutung, ehe ganz Fußball-Deutschland nach einem lechzt. Das wichtigste Versprechen in der Lohrheide: Die SGW wird nicht einen Cent mehr ausgeben als sie im Portemonnaie hat. Außerdem sollen Jugend- und Seniorenbereich strikt getrennt werden.

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In möglichen Szenarien spielt die SG Wattenscheid sowohl in der Ober- als auch in der Kreisliga. „Der neue Wattenscheider Weg“ wird zum Motto für den Neuanfang. Dieser Weg sieht vor, dass zunächst eine Jugendabteilung aufgebaut wird. Die Sponsorensuche hat begonnen. Klinkenputzen, Händeschütteln - oft gibt’s aber nur ein Kopfschütteln als Antwort. Noch immer leidet der Ruf unter der Insolvenz.

2. Norman Jakubowski bleibt

Norman Jakubowski, Mitte,am 18. Oktober 2020 gegen den SC Paderborn. In der aktuellen Saison war der Kapitän sportlich noch kein Faktor, er fehlt verletzt.
Norman Jakubowski, Mitte,am 18. Oktober 2020 gegen den SC Paderborn. In der aktuellen Saison war der Kapitän sportlich noch kein Faktor, er fehlt verletzt. © FUNKE Foto Services | Olaf Ziegler

Auf der Jahreshauptversammlung läuft erstmals seit vielen Jahren alles nach Plan. In beeindruckender Harmonie präsentiert sich der neue Vorstand den Mitgliedern, die an diesem Abend den Aufsichtsrat wählen. Hier zeigt sich: Vorbei sind die Zeiten von Allein- und Finanzherrschaft, in Wattenscheid wir die Last auf mehrere Schultern verteilt. Der Vorstand ist fünf Mann stark, die Fußball-Mannschaft aber besteht an diesem Abend noch aus lediglich einem Spieler.

Norman Jakubowski hält dem Verein die Treue, bleibt auch nach dem Rückzug aus der Regionalliga. Die Personalie ist ein Hinweis auf den sportlichen Anspruch, der fortan an der Lohrheide gilt, denn der Innenverteidiger hätte wohl kaum in der Kreisliga gekickt. Auf der Hauptversammlung wird seine Verpflichtung überraschend verkündet, die Anwesenden spenden lange Applaus. 09 startet schließlich in der Oberliga, aufgrund der Corona-Pandemie wird die Spielzeit 20/21 aber nach nur wenigen Spielen abgebrochen.

3. Auswärtssieg in Herne

Kapitän Marvin Schurig steht nach dem Derbysieg mit einem Megaphon auf dem Zaun vor dem Fan-Block, die Anhänger besingen die Mannschaft. Beim Schlachtruf „Spitzenreiter, Spitzenreiter“ lächelt Trainer Christian Britscho nur milde, bei „Derbysieger, Derbysieger“ macht er sogar mit. „Weil’s stimmt“, begründet er später. Außerdem gibt auch ihm der Sieg beim Rivalen Westfalia Herne Genugtuung.

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Am Schloß Strünkede gehen die Gastgeber zunächst in Führung, dann kommt Wattenscheid mit Wucht zurück, gewinnt völlig verdient mit 3:1. Ersatz-Torhüter Tolunay Isik sieht dabei die Gelbe Karte, weil er nach dem Treffer zum zwischenzeitlichen 2:1 jubelnd quer über den Platz rennt. Wattenscheid 09 springt über Nacht an die Tabellenspitze der Oberliga.

4. Heimsieg gegen Rhynern

Diese Ecke haben sich akribisch einstudiert - am Ende lässt die sehenswerte Kombination ganz Wattenscheid jubeln. In erster Linie aber Felix Casalino, der den daraus resultierenden späten Treffer zum 3:2-Sieg über Westfalia Rhynern mit einem Salto vor der Haupttribüne feiert. Das sieht waghalsig aus.

Er trainiere solche Aktionen aber in seinem Garten, lässt der Stürmer anschließend beruhigend wissen. Viel wichtiger für Trainer Britscho: Bereits zum dritten Mal in Folge ist die SGW nach einem Gegentor zurück ins Spiel gekommen und hat noch gewonnen. „Das ist eine Qualität, die die Mannschaft hat“, sagt der Coach, der trotz der drei Auftaktsiege noch Steigerungspotenzial sieht. „Das ist neben den neun Punkten zum Auftakt das Positive.“

5. Freitagsspiel gegen Vreden

Für solche Momente hat man ihn wohl geholt: In der letzten Aktion der Partie schraubt sich Sebastian Kleine hoch, erzielt dank einer enormen Kraftanstrengung das 1:1 gegen die SpVgg Vreden. Da läuft bereits die 4. Minute der Nachspielzeit. Wenige Augenblicke zuvor ist Offensivspieler Umut Yildiz eine Kopfball-Abwehr missglückt: Er hat den Ball zum 0:1 ins eigene Tor geköpft (90.).

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Den Fans ist es egal, welche Wirkung der späte Treffer hat: Sie feiern den späten Punktgewinn - es ist das erste Remis der SGW in dieser Saison - mit bengalischen Feuern auf der Tribüne.

6. Später Ausgleich gegen Kaan-Marienborn

Im Spitzenspiel fällt der Saisonrekord in puncto Zuschauerzahlen: 1422 Gäste sehen die Partie gegen Kaan-Marienborn, in der Felix Casalino nach einer guten Stunde zur 1:0-Führung trifft. Lange sieht es danach aus, als würde die Britscho-Elf in dem Top-Duell der Oberliga Westfalen den knappen Vorsprung über die Zeit retten. Dann schlägt Markus Pazurek in der zweiten Minute der Nachspielzeit zu. Der Treffer zum 1:1-Endstand lässt die Siegerländer jubeln und die Gastgeber toben.

Vor dem Tor hat es eine eklatant falsche Einwurf-Entscheidung gegeben. Das Tor hätte niemals fallen dürfen, denn Schiedsrichter Julian Engelmann hatte den Ball fälschlicherweise den Känern zugesprochen. Der Schock des späten Rückschlags wirkt lange nach. Es folgen zwei 0:1-Niederlagen in Rhynern und zuhause gegen Gütersloh. Nach den drei Partien ist die Luft beim Publikum offenbar raus, denn die Partie gegen Paderborn wollen nicht mehr so viele Fans sehen wie die vorherigen Spiele.

7. Lerche-Tor gegen Paderborn

Dennis Lerche nach seinem Siegtor gegen die U21 des SC Paderborn.
Dennis Lerche nach seinem Siegtor gegen die U21 des SC Paderborn. © FUNKE Foto Services | Thorsten Tillmann

Wieder kassiert die SGW nach einem Führungstor gegen ein Top-Team den Ausgleich, doch diesmal ist noch genug Zeit für ein Comeback. Und was für eins! Nur wenige Augenblicke nach seiner Einwechslung köpft Dennis Lerche sein Team wieder in Führung. Es ist der erste Ballkontakt des Winterzugangs in dieser Partie.

Lerche, mit einem Kampfgewicht von rund 120 Kilogramm in der Pause nach Wattenscheid gekommen, ist nach seiner Tor-Premiere hochemotional. Und das nicht nur, weil der Treffer der vorläufige Höhepunkt seines knüppelharten sportlichen Weges ist. „Ich bin bei meiner Oma aufgewachsen. Vor zwei Jahren ist sie gestorben. Dass ich ausgerechnet am Muttertag so ein Tor mache, ist ganz besonders. Das Tor gehört ihr.“

8. Fans treiben 09 zum Auswärtssieg in Dortmund

In der Pause ist Trainer Christian Britscho still. Lieber lässt er die Spieler den Dauergesang der Fans im Stadion hören. Mehr als 400 sind aus Wattenscheid mit zum Auswärtsspiel beim ASC 09 gereist. Sie haben das Stadion während der Dauer des Spiels und auch in der Pause fest im Griff. Dort feiert die Mannschaft einen 3:2-Erfolg, und wieder trifft Lerche.

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Der erzählt wenige Tage danach dieser Zeitung von schweren Schicksalsschlägen in seinem Leben. Die Fans haben ihn längst zur neuen Kultfigur gemacht, schreien „Bulle, Bulle“, wenn er den Platz betritt. Der Sieg in Aplerbeck markiert den Wendepunkt in der Aufstiegsrunde. Ab hier marschiert Wattenscheid 09 durch.

09. Auswärts in Erndtebrück

Erst der 0:1-Rückstand, dann zwei Tore von Timon Schmitz. Wattenscheid 09 erledigt seine Hausaufgaben, darf sich unmittelbar nach dem Schlusspfiff nach den Ergebnissen auf den anderen Plätzen erkundigen. Dann die Nachricht aus Rheine: Die Eintracht hat Westfalia Rhynern geschlagen. Die SGW schiebt sich am Hammer Klub vorbei auf Rang zwei, hat den Aufstieg jetzt selbst in der Hand. Auf der Rückfahrt wird der Bus zur Party-Location.

„Die ganze Entwicklung ist, ob es reicht oder nicht, ein Verdienst von allen“, sagt Sportvorstand Christian Pozo y Tamayo auf dem Heimweg. „Egal, ob in kurzen Hosen auf dem Platz oder mit Ordnerweste in der Kurve.“

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Derweil beginnen bei Wattenscheid 09 die Vorbereitungen auf DEN emotionalen Höhepunkt der Spielzeit: Das letzte Heimspiel gegen Rheine, in dem Wattenscheid 09 vor eigenem Publikum die Regionalliga-Rückkehr in eigener Hand hat. 30 Monate nach dem Re-Start: Was für eine Geschichte.

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