Essen. Jennifer aus NRW ist mit ihrer Familie nach Schweden ausgewandert. Auch wegen des schwedischen Schulsystems. Doch wie gut ist es wirklich?

Endlich sind die Ferien vorbei. Linnea (8) geht so gern zur Schule, dass sie Ferien am liebsten abschaffen würde und die Wochenenden gleich mit. „Allein dafür hat sich die Auswanderung gelohnt“, sagt ihre Mutter Jennifer (39). Lehrer fehlen, Unterrichtsstunden fallen aus, die Gebäude sind marode, die Toiletten dreckig: Die Schlagzeilen über Schulen in NRW sind für Jennifer ganz weit weg. Sie hat ihre alte Heimat hinter sich gelassen – und in Schweden ein neues Zuhause gefunden.

Schweden ist Sehnsuchtsort. Viele träumen von einem unbeschwerten Leben mitten in der Natur. Einer heilen Welt, wie Astrid Lindgren sie in ihren Büchern beschreibt. Und einem Schulsystem, das weit entfernt von einer Bildungskrise ist. Doch wie viel Bullerbü steckt tatsächlich im schwedischen Alltag?

Mitten in der Corona-Pandemie: Familie reist mit Wohnwagen durch Europa

Winter 2020: Während sich die meisten Menschen mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in ihre eigenen Wände zurückzogen, kündigte David seinen Job und das Paar seine Wohnung. Die beiden verkauften ihre Autos, ihre Möbel, eigentlich alles, was sie besaßen – und zogen mit ihren Töchtern, die damals zwei und vier Jahre alt waren, in ein Wohnmobil. Ein Jahr lang wollten sie durch Europa reisen.

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Nachdem sie bereits Spanien und Italien entdeckt hatten, schlug David ein neues Ziel hoch im Norden vor. „Ich dachte nur: Schweden? Was soll ich denn da? Da hat es im Sommer 18 Grad“, erinnert sich Jennifer. Sie ließ sich trotzdem überreden – und erlebte eine Welt wie aus dem Kinderbuch. „Überall waren rote Schwedenhäuschen, du stehst mit deinem Camper jeden Tag an einem anderen See, machst abends Lagerfeuer. Das war wirklich komplett Bullerbü“, sagt sie.

„Unser Bauchgefühl hat ganz klar Schweden gesagt“

Die Vier verliebten sich in das Land. So sehr, dass sie beschlossen, dauerhaft dort zu bleiben. Als sie ihrer Familie und ihren Freunden davon erzählten, erklärten diese sie für verrückt. Doch schon nach wenigen Monaten fand David einen Job bei einer deutsch-schwedischen Firma an der Südwestküste – und ihr neues Leben konnte beginnen.

Das ist nun mehr als zwei Jahre her. Heute, sagt Jennifer, sei ihr Leben wunderschön, „aber nicht so rosa-rot Bullerbü wie im Urlaub“. Sie wohnen in einem Reihenhaus, nicht im Schwedenhäuschen. Sie leben am Meer, nicht am See. Und im Winter fallen meistens dicke Regentropfen vom Himmel, es fällt kein puderweißer Schnee.

Jenny ist mit ihrem Mann und den beiden Töchtern von NRW nach Schweden ausgewandert. Über den neuen Familienalltag

„Die beiden gehen so gern zur Schule. Vor allem, weil sie hier ohne Leistungsdruck lernen können.“

Jennifer

Jennifer schätzt die gelassene Art der Schweden, die unberührte Natur und vor allem das Schulsystem. Ihre ältere Tochter geht in die zweite Klasse, die jüngere wurde gerade eingeschult. Die beiden bekommen in den ersten Jahren keine Noten, fast nie Hausaufgaben. Sie lernen in kleinen Klassen. Zwei Lehrkräfte kümmern sich gemeinsam um knapp 20 Schülerinnen und Schüler. Bisher sei noch keine einzige Unterrichtsstunde ausgefallen. „Die beiden gehen so gern zur Schule. Vor allem, weil sie hier ohne Leistungsdruck lernen können“, sagt Jennifer. So sprechen die beiden auch schon sehr gut Schwedisch, während sie und ihr Mann mit der Sprache noch zu kämpfen haben.

Schwedens Bildungssystem galt lange als vorbildlich – dann kam der „Pisa-Schock“

Seit den 60er Jahren herrscht in Schweden das Prinzip der „Schule für alle“. Die Kinder besuchen neun Jahre lang zusammen die Grundschule und wechseln erst dann auf eine weiterführende Schule. Schwedens Bildungssystem galt viele Jahre international als Vorbild. Etliche Politikerinnen und Pädagogen aus Deutschland reisten gen Norden, um zu lernen, wie Schule gleichzeitig leistungsstark und sozial gerecht sein kann.

Doch dann erlebte das Land, wie auch Deutschland, einen „Pisa-Schock“. Während die schwedischen Schülerinnen und Schüler in der internationalen Vergleichsstudie lange auf den vorderen Plätzen landeten, sackten ihre Leistungen unter den Durchschnitt ab.

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Was tun gegen die Schulmisere? Im ersten Schritt wurde beschlossen, dass Schüler bereits ab der sechsten Klasse benotet werden. Für größere Reformen hatte die Regierung die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) um Hilfe gebeten. Die Expertengruppe befand: Den Schülern fehle es an Ehrgeiz, sie erhielten zu wenig Anleitung. Außerdem sei der Lehrerberuf nicht attraktiv genug, das Gehalt niedriger als in vergleichbaren Ländern. Probleme, vor denen auch NRW steht.

Von NRW nach Schweden: Auswanderin Jenny
Sommer wie aus dem Kinderbuch: Auf ihrem Instagram-Account swedendaysfor4 gibt Jennifer Einblicke in ihren Familienalltag. © privat | privat

Eine Besonderheit in Schweden: Anfang der 90er Jahre erleichterte die Regierung die Gründung von Privatschulen und führte ein Recht auf freie Schulwahl ein. Die Einrichtungen sollten in einen Wettbewerb miteinander treten und sich dadurch verbessern. Die Entstehung dieses Bildungsmarktes habe laut Kritikern jedoch dazu geführt, dass die Betreiber offensiv um die Kinder und ihre Eltern werben – auch mit milden Noten. Um die Eltern als Kunden zufrieden zu stellen, benoteten sie die Schüler besser und gefährdeten damit langfristig aber ihre Leistungen. Heute liegt Schweden bei der Pisa-Studie zwar wieder im Mittelfeld, drei Plätze vor Deutschland. Doch die Schulmisere ist immer noch Dauerthema in der Politik.

Jennifer sind diese Diskussionen fern. Für ihre Töchter sei der Unterricht in Schweden genau das Richtige. Trotzdem freut sie sich, anders als die beiden, schon jetzt auf die Sommerferien. Wenn sie die Tage am Meer verbringen, beim Midsommar-Fest Blumenkränze flechten und sich das Leben wieder nach Bullerbü anfühlt.

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