Gelsenkirchen. Klausuren? Fehlanzeige. Noten? Gibt‘s nicht. Schulabschluss? Kein Thema. Diese Gelsenkirchener Schule ebnet besonderen Kindern den Weg ins Leben.

Patrick möchte jetzt nicht mit der Mama nach Hause. Die Schulstunde ist gerade vorbei, der Elfjährige zieht einen formvollendeten Flunsch und weigert sich standhaft, die Klasse zu verlassen. Schulschluss ist eigentlich erst in zwei Stunden und er möchte noch bleiben. Dass das aus guten Gründen heute leider nicht möglich ist, kann er nicht verstehen. Liebevoll und mit unendlicher Geduld gelingt es der Klassenlehrerin gemeinsam mit seinem Integrationshelfer, den Jungen sanft aus der Klasse zu locken. Patrick heißt nicht Patrick, so wie in diesem Artikel alle Kinder und Jugendliche einen anderen Namen bekommen haben. Weil für sie eine geschützte Atmosphäre besonders wichtig ist.

Viele Kinder haben überhaupt keine Sprache entwickelt

Petra Adameck leitet diese Schule, die Förderschule Hansastraße für Kinder mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Seit dem Sommer arbeitet das Team an zwei, recht weit voneinander entfernten, Standorten. An der Hansastraße platzte die Schule aus allen Nähten, weil immer mehr Kinder die Schule ansteuern. „In den letzten Jahren ist der Bedarf an Plätzen für Kinder mit Förderbedarf geistige Entwicklung sehr stark gestiegen. Und die Kinder, die heute kommen, sind anders als früher“, erzählt die Leiterin.

Anders? „Ja. Nur drei von 13 haben ein Sprachvermögen entwickelt, zum Beispiel“, präzisiert sie. Und nicht immer können die Eltern hinreichend Unterstützung leisten. Es geht nicht um Deutschkenntnisse, um eine andere Muttersprache, sondern um die Fähigkeit, überhaupt sprechen zu können. Autismus in extremen Ausprägungen ist ein zunehmendes Phänomen.

Die Außenstandort Caubstraße der Förderschule Hansastraße
Auf dem Schulhof stehen Lärmschutzcontainer, wegen der benachbarten Bahnstrecke. Hier können sich aber auch Schüler in den Pausen bei Bedarf zurückziehen. Nicht nur bei Regen. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Eigentlich ist das Miteinander aller Altersgruppen an dieser Schule, die von der Primarstufe, also von der allerersten Klasse an, bis zum Ende der Schulpflicht mit 18 Jahren unterrichtet, besonders wichtig, betont die Pädagogin. Ältere kümmern sich um Jüngere, der Unterricht läuft ohnehin nicht streng nach Jahrgängen. Die Primarstufe - Grundschule - dauert hier regulär fünf Jahre. Von daher ist die Aufteilung der Altersgruppen auf zwei Standorte nicht wirklich ideal. „Aber es hilft ja nichts, an der Hansastraße ging es wirklich nicht mehr. Und von daher sind wir froh, dass wir diese gut ausgestatteten Räume bekommen haben“, versichert die Schulleiterin.

Die Mittel- und die Oberstufe sind jetzt hier an der Caubstraße untergebracht. An der Hansastraße werden nur noch die Kinder der Primarstufe und die Jugendlichen der Berufspraxis betreut, letztere wegen der dort vorhandenen Fachräume. Auch das Team ist fest aufgeteilt auf die Standorte, nur die Leiterin pendelt zwischen den Gebäuden.

Die Außenstandort Caubstraße der Förderschule Hansastraße
Das Foyer des Gebäudes an der Caubstraße dient zugleich als Mensa, in der in Schichten gegessen wird. An der Hansastraße nehmen die Grundschulkinder ihr Mittagessen in der Klasse zu sich, das ist für die Kleinen einfacher. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

An der Caubstraße hatten bis zum Sommer 2024 die Kinder der Grundschule Kurt-Schumacher-Straße ein vorübergehendes Domizil gefunden, für sie waren die alten Gebäude ertüchtigt worden, für die Zeit bis zur Fertigstellung des Ergänzungsbaus in diesem Sommer. Trotz extremer Raumnot an allen Grundschulen wollte keine diese Räumlichkeiten als Außenstandort nutzen. „Kurz vor den Osterferien hat man dann uns gefragt, ob wir hier einziehen wollen. Zum einen gab es erneut mehr Anmeldungen bei uns als im Vorjahr, zum anderen waren zu der Zeit einige Räume an der Hansastraße nicht nutzbar wegen Bauschäden. Nach den Ferien haben wir uns entschieden: Wir möchten hier einziehen“, schildert Adameck.

Und man sei sehr froh, hier sein zu können. „Wir bekommen viel Unterstützung, von der Stadt und der Bezirksregierung. Das Mobiliar ist schön, wir bekommen einen Snoezelraum (Beruhigungsraum), eine neue Lehrküche wird eingerichtet, es gibt eine Trainingswohnung mit Waschmaschinen, Bügeleinrichtung, Bastelmöglichkeiten, einen Musikraum für die Schulband“, zählt sie auf. Im Musikraum stehen vier Keyboards, zwei Drumsets und viel Soundtechnik, freitags kommt die engagierte Musiklehrerin von der Hansastraße hierhin, um die Schulband zu managen.

Die Außenstandort Caubstraße der Förderschule Hansastraße
Rückzugsmöglichkeiten für die Schülerschaft bei Bedarf sind an dieser Schule wichtig. An der Caubstraße gibt es diese Möglichkeit. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Auf dem Weg zu einem Klassenraum ist aus dem Erdgeschoss das durchdringende Schreien eines Kindes zu hören. Es klingt dramatisch. „Torben wartet auf das Taxi, das ihn heimbringen soll. Nicht alle Kinder schaffen einen ganzen Schultag, die dürfen bei Bedarf auch zwischendurch nach Hause“, schildert Petra Adameck den Hintergrund. Normalerweise werden alle Kinder per Schulbus abgeholt und heimgebracht. Das funktioniert unter der Zeit nicht, aber für solche Fälle werden Taxifahrten genehmigt. Als wir unten den Ruheraum passieren, in dem Torben aufs Taxi wartet, finden wir ihn vor Erschöpfung schlafend auf einem großen Kissen vor, neben ihm eine Betreuerin. 70 Integrationshelferinnen und -helfer und 55 Lehrkräfte stehen zur Verfügung, viele der Sonderpädagogen hat die Schule selbst ausgebildet. Und sie sind hiergeblieben. Jedes Kind ist hier anders. Und dem passt das Team sich an, so gut wie eben möglich.

In der Trainingswohnung der Schule wird das Leben geübt

Ein Schulabschluss mit Noten ist für die Schülerinnen und Schüler hier nicht vorgesehen. Am Ende gibt es ein Zeugnis mit einer Einschätzung, einer Art Beurteilung. Es geht hier vor allem darum, die Schülerinnen und Schüler so gut es geht auf das Leben vorzubereiten. Dafür gibt es zum Beispiel auch den Hauswirtschaftsraum, in dem geübt werden kann, Betten zu beziehen, Wäsche zu waschen, zu basteln, sich handwerklich zu betätigen. Hier werden Möbel gemeinsam aufgebaut, das Leben geübt. „Im Schnitt schafft es ein Kind pro Jahrgang, nach der Schule in den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln. Die anderen arbeiten später häufig in Werkstätten“, berichtet die stellvertretende Schulleiterin, Ulrike Katzenmeier.

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Das aufs Whiteboard geworfene Tafelbild in einer Oberstufenklasse, in der Heranwachsende zwischen 14 und 16 Jahren lernen, zeigt Wochentag, Datum und Programm, ganz so wie in einer Grundschulklasse, im Hintergrund ist eine kindlich gestaltete Waldszenerie mit Eichhörnchen zu sehen. Auch an dieser Schule wird unterrichtet und gelernt: nur anders.