Essen. Fast eine Million Syrer leben in Deutschland, allein in Essen knapp 16.000. Werden sie jetzt alles stehen und liegen lassen und gehen?

Essen, immer wieder Essen. Im Juni vergangenen Jahres machte die Stadt im Zentrum des Reviers bundesweit Schlagzeilen, als ein Konflikt zwischen aus dem Libanon stammenden Familien und aus Syrien Geflüchteten eskalierte, der 400 Polizeibeamte auf den Plan rief. Ausgangspunkt war ein an sich harmlos anmutender Streit zwischen Kindern. Tatsächlich ging es aber um die Vormachtstellung an Rhein und Ruhr im Hinblick auf kriminelle Machenschaften: Drogengeschäfte, Menschenhandel, Schutzgelderpressung. Die in Essen alteingesessenen Clans wollten und wollen die verhältnismäßig neue Konkurrenz aus Nahost nicht akzeptieren.

Knapp 16.000 Syrerinnen und Syrer leben heute in Essen. Ihre Zahl hat sich innerhalb von zehn Jahren verzehnfacht. Viele Bürgerinnen und Bürger beobachten das mit Argwohn. Sie unterscheiden nicht zwischen den Banden junger Männer, die vor vielen Jahren allein nach Essen gekommen sind, ohne Familie, ohne Bindung, ohne Perspektive, und den hier Integrierten, die fleißig einen Beitrag leisten wollen zum Gelingen unserer Gesellschaft.

Die Wenigsten sind Kriminelle

Die meisten aus Syrien Stammenden sind friedliche Menschen, die wenigsten sind Kriminelle. Unter ausländischen Tatverdächtigen allerdings stellen Syrer der polizeilichen Kriminalstatistik Essens zufolge die größte Gruppe dar. Auch das gehört zur Wahrheit. Und wer die benennt, nüchtern, ohne populistische Absichten, begibt sich auf einem schmalen Grat zwischen Differenzierung und Stigmatisierung.

Essen war am Wochenende wieder Schauplatz syrisch geprägter Umtriebe, doch diesmal gibt es nichts zu differenzieren, nichts zu kritisieren: 11.000 Menschen feierten fröhlich-friedlich den Sturz des Assad-Regimes in der Grünen Mitte. Die Versammlung dürfte in Deutschland die größte ihrer Art gewesen sein. Ich habe mich mit den Demonstrantinnen und Demonstranten auf dem Jakob-Funke-Platz über diesen historischen Moment herzlich gefreut. Ohne Wenn und Aber.

Spahn-Vorschlag ist beschämend

Und ja, es ist zum Fremdschämen, wenn Politiker wie Unions-Fraktionsvize Jens Spahn am selben Tag laut über Charterflüge und 1000-Euro-Prämien für jeden nachdenken, der geht (lesen Sie dazu auch den Kommentar meines Kollegen und WAZ-Politikchefs Frank Preuß). Angemessen und naheliegend sind dagegen die folgenden Fragen: Wie reagieren die in Deutschland lebenden fast eine Million Syrerinnen und Syrer in den nächsten Wochen und Monaten auf die guten Nachrichten aus der Heimat? Werden viele von ihnen zurückkehren? Es sind die Betroffenen selbst, die sich das jetzt fragen, in Essen, Bochum, Bottrop, Oberhausen, Dortmund und überall.

WAZ-Reporter Johannes Pusch, zugleich stellvertretender Chef unserer Lokalredaktion, hat in seinem Bericht von der Kundgebung in Essen eindrücklich geschildert, welche inneren Konflikte nun auf die bei uns lebenden Syrer zukommen. Unter anderem sprach er mit Ethar Abdullatif, der vor zehn Jahren gekommen ist.

Essen? Das sei seine zweite Heimat geworden, erzählt der Syrer. Hier habe er an einem Abendgymnasium sein Fachabitur in drei Jahren nachgeholt. Nun studiere er Maschinenbau in Bochum. Was für eine tolle, respektable Leistung das ist! Will Jens Spahn diesen jungen Mann auch ins nächste Flugzeug setzen?

Syrerdemo in Essen
Ausgelassen feierten Demonstranten der syrischen Community am vergangenen Sonntag in Essen. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Nicht alle in der CDU sind solche Scharfmacher wie Spahn. 2015 hatte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem „Wir schaffen das“ etwas etabliert, was inzwischen in weiten Teilen der Gesellschaft zu einem Schimpfwort mutiert ist: die deutsche Willkommenskultur. Merkel folgte damals ihrem christlichen Gewissen, stellte Menschlichkeit in den Mittelpunkt ihres Handelns. Bei allen Fehlern, die man ihr vorwerfen kann, bewundere ich sie dafür persönlich sehr. Spahn dagegen macht schon länger den Anti-Merkel.

„ . . . wenn es stabil ist“

Deutlich gemäßigter als Spahn klingt der außenpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt. Man müsse jetzt abwarten, was aus diesem „Momentum“ nach dem Sturz Assads folge, sagt er und fügt hinzu: „Aber wir erwarten von den syrischen Flüchtlingen in Deutschland, dass sie in ihr Land zurückkehren, wenn es dort stabil ist.“

Na gut. Definiere „stabil“ …

Werden sich die neuen Machthaber an ihr Versprechen halten, gemäßigt mit den bisherigen Assad-Unterstützern im Land umzugehen? Werden sie die Menschenrechte achten und das Land in eine Demokratie führen? Können sie das Land bis dahin überhaupt vollständig kontrollieren, Chaos und Anarchie verhindern?

Die humanitäre Lage in Syrien ist nach dem jahrelangen Bürgerkrieg nur mit einem Wort zu beschreiben: katastrophal. Wenn es unglücklich läuft, könnten sogar noch mehr Flüchtlinge nach Europa und speziell nach Deutschland kommen. CDU und CSU auf dem Weg, wieder Regierungsverantwortung zu übernehmen, sollten ihr Erwartungsmanagement insofern nachjustieren, meine ich. Es würde schon an ein Wunder grenzen, wenn nun alles gut wird in Syrien.

Kinder kennen Syrien nicht

Wo sieht Ethar Abdullatif seine Zukunft? Mit seiner Frau hat der Essener mit syrischem Migrationshintergrund inzwischen vier Kinder, alle in Deutschland geborenen. Insofern wissen die Kleinen nichts über das Heimatland der Eltern, wissen darüber nur aus Erzählungen Bescheid. Deutschland oder Syrien? Für den Maschinenbau-Student ist es zu früh, das zu entscheiden. Das versteht (fast) jeder.

Auf bald.

Klartext als Newsletter

Wer die Klartext-Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ, nicht verpassen möchte, kann den kostenlosen Newsletter bestellen. Klartext: Hier werden politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen – um Klartext eben.

Klartext als kostenloser Newsletter? Hier anmelden!

Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.