Bottrop. Rebellen beenden die Schreckensherrschaft in Syrien. Viele Syrer feiern den Sturz des Regimes – auch weil sie nun in ihr Land zurückkehren können.
- Das bisherige syrische Staatsoberhaupt, Diktator Baschar al-Assad, ist nach Moskau geflüchtet.
- Für viele Syrerinnen und Syrer kam der Regierungssturz überraschend.
- „Islamisten oder Freiheitskämpfer?“ – die politische Orientierung der Rebellen in Syrien ist unklar.
Es ist das Ende des Bürgerkriegs, der Anfang einer neuen Zeit in Syrien: Am Wochenende stürzten syrische Rebellen den Machthaber Baschar al-Assad und dessen Militär. Weltweit feiern Syrer das Ende der Unterdrückung, so auch in Essen, wo 11.000 Personen aus ganz Deutschland und den Niederlanden an einer friedlichen Demonstration teilnahmen. Zwei Syrer aus Bottrop berichten vom „überwältigenden“ Moment, als sie die Nachricht erfahren haben – schauen jedoch unterschiedlich optimistisch auf die Zukunft ihres Heimatlandes.
54 Jahre Schreckensherrschaft: Das Regime der Familie al-Assad ist vorbei
Zum Hintergrund: Am Sonntag, 8. Dezember, hat ein Bündnis von syrischen Rebellen Damaskus eingenommen. Regierungsoberhaupt und Diktator Baschar al-Assad floh aus der syrischen Hauptstadt – nach Angaben russischer Staatsmedien befindet er sich in Moskau. Seit Ende November gab es im Norden Syriens schwere Kämpfe um die Regionen Idlib und Aleppo, der Machtwechsel erfolgte friedlich binnen 48 Stunden.
Für viele Menschen gilt der Regierungssturz in Syrien als Befreiungsschlag: 54 Jahre lang unterdrückte, verhaftete und tötete die Familie al-Assad ihre eigene Bevölkerung. Seit 2011 herrscht in Syrien ein Bürgerkrieg. Der Anführer der Rebellengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) ist Abu Muhammad al-Dscholani. Er fordert derzeit eine friedliche Machtübergabe. Aufgrund seiner Vergangenheit beim Terrornetzwerk al-Qaida werden seine Absichten jedoch vielfach infrage gestellt.
Syrischer Arzt aus Bottrop: „Jetzt ist es ein Fest“
„Wir haben einfach nur geweint, wir konnten es nicht glauben und waren die ganze Nacht wach“, sagt Dr. Mohamad Samer Hadid. Der 45-Jährige hat lange Zeit in Bottrop gewohnt, vor Kurzem zog er nach Osterfeld. Bereits 2008 kam der Arzt für Darmerkrankungen mit seiner Familie nach Deutschland, arbeitete von 2010 bis 2015 im Marienhospital Bottrop und leitet heute eine eigene Praxis in Oberhausen. „Das kam überraschend für uns“, antwortet Hadid auf die Frage nach dem Regierungssturz, „jetzt ist es ein Fest!“
„Wir haben einfach nur geweint, wir konnten es nicht glauben und waren die ganze Nacht wach.“
Seit Beginn des Bürgerkrieges habe er genau auf diesen Moment gewartet. „Das Regime war zu stark, viele Menschen sind gestorben, Tausende sind in Gefängnissen verschwunden“, erzählt Hadid. Doch mit dem Ende der Schreckensherrschaft von al-Assad würden diese Personen endlich wieder die Sonne sehen. „Stellen Sie sich das mal vor, Sie kommen aus dem Gefängnis und hören, dass das Regime gestürzt wurde.“ Für ihn bedeutet das Ende von al-Assads Regime vor allem eines: Freiheit. „Früher konnte ich mich nicht mit meiner Mutter in Syrien treffen. Jetzt kann jeder dorthin zurückgehen.“
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„Das sind keine Islamisten“ – Bottroper verteidigt syrische Rebellen
Mit Blick in die Zukunft sagt der Arzt entschlossen: „Unser Land hat viel gelernt, wir wollen Syrien wieder aufbauen.“ Syrien brauche und wolle ein anderes System, ein Parlament. „Das ist der Wunsch von allen Syrern. Viele würden für den Wiederaufbau zurückgehen. Die syrischen Fachkräfte in Deutschland können dort viel bewirken.“ Hadid selbst plant, alle paar Monate in die Heimat zu reisen, um dort bei Gesundheitsfragen zu unterstützen.
Den Familienvater ärgert die Debatte über die Absicht des HTS-Anführers al-Dscholani: „Er ist einfach Syrer. Ein gläubiger Mensch, ja, aber normal.“ Al-Dscholani sei ein intelligenter Mann, dem er vertrauen würde. Nicht zuletzt, weil er bereits am Montagmorgen die ehemaligen syrischen Minister Muhammad al-Bashir und Riad Hijab zur Bildung einer Übergangsregierung ernannt habe. Beide lebten im Exil und gelten als Gegner des Assad-Regimes. „Das sind keine Islamisten, die Leute sollten versuchen, uns Syrer besser zu verstehen.“
„Wie ist es mit den Rechten der Minderheiten und Frauenrechten?“
Gwan Suliman ist Bottroper und studiert derzeit Humanmedizin an der Universität Duisburg-Essen. Für den 21-Jährigen kam die Nachricht vom Regierungssturz ebenso plötzlich, wie für Dr. Hadid: „Ich habe es über Instagram erfahren, es war überwältigend.“ Es sei eine sehr erfreuliche Nachricht, allerdings gibt Suliman sich damit noch nicht zufrieden: „Das ist ein erster Schritt, aber es bleiben noch einige Fragen offen.“
„Wie ist es mit den Rechten der Minderheiten und Frauenrechten?“, fragt der junge Kurde, der gebürtig aus Nordsyrien kommt. „Ich hoffe, dass alles gut geht, bin aber der erste Oppositionelle, wenn die Themen nicht auf den Tisch kommen.“ Zudem stellt er die Frage nach der Intention der Rebellen: „Sind es jetzt Islamisten oder Freiheitskämpfer?“ Derzeit könne er die Personen nicht einschätzen.
Für Suliman, der bis zur achten Klasse in Syrien gelebt hat, ist erst in Deutschland wirklich deutlich geworden, was Demokratie bedeutet. „Ich war auch Klassensprecher in Syrien, aber habe nicht gemerkt, dass ich als Kurde indirekt nicht dazugehöre. In Deutschland war es anders“, sagt er. Das demokratische System habe ihm die Augen geöffnet – Syrien sei gar kein offenes, sondern ein in sich geschlossenes System gewesen.
Bottroper Student würde „niemals ganz zurückgehen“ nach Syrien
„Ich hoffe, dass alle, die nach Syrien zurückkehren, demokratische Werte aus Europa mitbringen“, sagt der 21-Jährige, der bei der SPD aktiv ist und bis vor seinem Studium das Jugendparlament geleitet hat. Gehen die Menschen direkt zurück nach Syrien? „Ich glaube nicht, dass sie so naiv sind und jetzt sofort aufbrechen. Die Zukunft ist ungewiss.“
Suliman rechnet zwar damit, dass viele Syrer zurück in ihre Heimat gehen, doch für sich selbst hat er Folgendes festgestellt: „Ich hatte meine schönste Zeit in Deutschland, habe alle Rechte genossen, habe Abitur gemacht, war im Jugendparlament, studiere, habe hier meine Freunde. Ich würde niemals ganz zurückgehen. Vielleicht für einen Urlaub.“
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