Herne. Die Rheumatologie hat in den vergangenen 20 Jahren riesige Fortschritte gemacht. Mit an der Spitze der Entwicklung ist auch eine Herner Klinik.
Der Begriff „Hidden Champion“ wird gerne in der Wirtschaft verwendet, doch man kann ihn in diesem Fall auf die Medizin übertragen. Das Rheumazentrum Ruhrgebiet in Herne taucht in keinen Rankings auf, auch sein Ärztlicher Direktor Prof. Xenofon Baraliakos nicht. Dennoch zählt sie wohl zu den wichtigsten Kliniken ihrer Fach-Disziplin, bundesweit und international.
Wer Postkarten sammelt, hat vielleicht noch eine, die das ehemalige Solbad in Wanne-Süd mit seinem hufeisenförmigen Gebäude und dem Springbrunnen zeigt. „Ich kenne die Geschichte des Solbads“, sagt Baraliakos im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion. Das sei jene Zeit gewesen, als Rheuma-Symptome lediglich gelindert werden konnten - mit Baden, Turnen und vielleicht noch mit Schmerzmitteln.
Rheumazentrum ist eine Akut-Klinik, keine Rehaeinrichtung
Das heutige Rheumazentrum noch als Rehaklinik zu bezeichnen, sei in großes historisches Missverständnis. Die Rheumatologie habe riesige Fortschritte gemacht und sei neben der Onkologie das medizinische Fach, das sich im Laufe der vergangenen rund 20 Jahre am meisten verändert habe. 1998/99 sei der große Durchbruch gewesen. „Seitdem können wir nicht nur die Symptome lindern, sondern die Erkrankung auch behandeln und aufhalten“, betont Baraliakos. Er sei selbst an diesem Durchbruch entscheidend beteiligt gewesen - mit der weltweit ersten Studie zur Behandlung von Betroffenen mit biologischen Substanzen.
„Rheuma ist eine Junge-Leute-Krankheit“
„Inzwischen verstehen wir die Erkrankung viel besser“, so Baraliakos und räumt mit der traditionellen Vorstellung auf, dass Rheuma eine Alte-Leute-Krankheit ist. „Rheuma ist vielmehr eine Junge-Leute-Krankheit, mehr als zwei Drittel der Betroffenen sind zwischen 25 und 55 Jahre alt.“ In früheren Jahren sei die Krankheit einfach zu spät erkannt worden. Es habe teilweise bis zu zehn Jahre gedauert, ehe die richtige Diagnose gestellt worden sei. „Da haben die Patienten viele Jahre ihres Lebens verloren“, so Baraliakos.
Diagnose ist schwierig, weil Symptome auf andere Krankheiten hindeuten können
Die Ursache für diesen enorm langen Zeitraum bis zur richtigen Diagnose: Die Symptome können auch auf ganz andere Krankheiten hindeuten. Inzwischen sei die Diagnosedauer auf drei Jahre gedrückt worden. Das sei einerseits durch den technischen Fortschritt möglich gewesen. Ultraschall und Kernspintomograf könnten sehr gut Knochen, Gefäße und vor allem Entzündungen darstellen, andererseits hätten die anderen Fachdisziplinen nun mehr Wissen und hätten bei den entsprechenden Symptomen Rheuma als mögliche Ursache für Schmerzen im Hinterkopf.
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Doch dazu muss man wissen: Rheuma ist sehr facettenreich, es gebe mehrere hundert Arten, so Baraliakos. Zu den häufigsten entzündlich-rheumatischen Erkrankungen gehört die rheumatoide Arthritis, die vor allem Hände und Füße betrifft und die Spondyloarthritiden, die die Wirbelsäule befallen. Die Gemeinsamkeit aller Rheuma-Arten: Die Abwehrzellen des Immunsystems richten sich gegen das körpereigene Gewebe und verursachen Entzündungen, die unter anderem mit Schmerzen, Gelenksteifigkeit und Bewegungseinschränkungen einhergehen. Doch es können auch Knochen, Knorpel, Muskeln, Sehnen und sogar Gefäße betroffen sein. „Vorbeugen kann man noch nicht, denn es gibt keine Tests, die eine entzündlich-rheumatische Erkrankung sicher vorhersagen. Aber wir arbeiten dran“, so Baraliakos. Was das bedeutet: Das Rheumazentrum ist nicht nur ein großer Behandlungs-, sondern auch eine großer Forschungsstandort. „Zurzeit laufen bei uns über 50 Studien“.
Heilung ist noch nicht möglich, aber ein Leben ohne Beschwerden und Einschränkungen
Aufgrund dieser jahrelangen Forschungsarbeit sei es möglich, für die Patienten eine individuelle Medikamententherapie zu finden. Und hier liegt der große Unterschied zu den früheren Zeiten: „Wir sind ein Akut-Krankenhaus, in dem wir die Patienten schnell behandeln. Reha-Maßnahmen folgen erst im Anschluss.“ Doch Baraliakos und andere Wissenschaftler haben sich mit ihrer Forschung auf den Weg gemacht, um sogar eine Reha überflüssig zu machen. Eine vollständige Heilung gebe es zwar noch nicht, denn das würde bedeuten, dass die Patientinnen und Patienten ohne Medikamente auskommen. „Doch es ist inzwischen möglich, ein Leben ohne jegliche Beschwerden und Einschränkungen zu erreichen.“
>>> Bei Patientenzahlen und in der Forschung führend
Das Rheumazentrum Ruhrgebiet sei – bezogen auf die Anzahl der Patienten, die dort versorgt werden – die größte Rheumaklinik Europas, so Prof. Xenofon Baraliakos. Das spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass die Klinik, deren Neubau 2014 eingeweiht wurde, inzwischen um eine Etage aufgestockt worden ist.
National und international sei das Rheumazentrum führend in der Erstellung von Leitlinien zur Behandlung entzündlich-rheumatischer Erkrankungen – auch bei klinischen Studien mit neuen Medikamenten und beim Einsatz und der Erforschung von diagnostischen Verfahren. Mitarbeiter der Klinik seien auf allen nationalen und internationalen Kongressen aktiv mit Beiträgen vertreten. Oberärzte des Rheumazentrums Ruhrgebiet leiteten Komitees für die Erforschung und Versorgung entzündlich-rheumatischer Erkrankungen. Baraliakos selbst ist aktuell Präsident der Internationalen Gesellschaft für die Erforschung von Spondyloarthritiden und ab 2025 Präsident der Europäischen Rheuma-Gesellschaft.