Dorsten/München. Das Schulsystem ist ungerecht, findet Katharina Bach. Mit Lern-Fair.de sorgt sie selbst für mehr Gerechtigkeit. Jetzt im WAZ-Videotalk.
März 2020, die Pandemie erfasst Deutschland, die Schulen schließen, sie erreichen viele Kinder nur ungenügend. Da kommen die Schulfreunde Christopher Reiners und Gero Embser an der Uni Bonn auf die Idee, eine Online-Nachhilfe zu gründen. Nach zwei Tagen steht die Website der „Corona School“. Und zweieinhalb Jahre später hat die in „Lern-Fair“ umgetaufte Plattform bereits über 15.000 Schülerinnen und Schülern einen Lernpartner vermittelt.
Diese Erfolgsgeschichte verkörpert Katharina Bach an prominenter Stelle. Die 25-Jährige aus Dorsten ist Aufsichtsrätin von „Lern-Fair“ und nimmt am Mittwoch bei einer Gala in Hamburg das „Goldene Bild der Frau“ in Empfang (die Zeitschrift gehört wie die WAZ zur Funke Mediengruppe) – es ist nur eine von vielen Ehrungen, darunter der Deutsche Engagementpreis. Im WAZ-Videotalk „Ruhrgebiet, wir müssen reden!“ unterhält sich Chefredakteur Andreas Tyrock mit Katharina Bach über die Schulmisere, das mitreißende Engagement der Ehrenamtlichen und ihre Bindung zum Ruhrgebiet – auf waz.de.
Wo macht das Kind seine Hausaufgaben?
Das Bildungssystem ist „sehr ungerecht“, findet Katharina Bach. Und zahlreiche Studien geben ihr Recht. Zuletzt zeigte der IQB-Bildungstrend, wie sehr der Wohlstand der Familie über den Lernerfolg entscheidet – und dass die Pandemie die Misere verschärft hat. „Das liegt nicht daran, dass die Kinder dümmer sind, sie erfahren nur nicht die Unterstützung, die sie benötigen würden“, sagt Bach. „Das fängt schon bei der Hardware an. Nicht jedes Kind hat ein Laptop oder Tablet. Als der Unterricht plötzlich digital stattfand, konnte einfach nicht jedes Kind daran teilnehmen. Es gibt auch Kinder, die haben kein eigenes Zimmer, wo sie in Ruhe Hausaufgaben machen können.“
Doch nicht nur die fachliche Ebene sei entscheidend, weiß die Doktorandin, die derzeit in München zum „Adaptiven Lernen“ promoviert: „Es macht einen Unterschied, ob ein Elternteil zuhause ist und das Kind unterstützt, auch durch einfaches Nachhören: Was möchtest du denn mal werden? Um dann Türen zu öffnen, damit das Kind erfährt: Was habe ich für Möglichkeiten? Das haben viele Kinder nicht. Viele verlieren dadurch den Glauben an sich, weil sie vielleicht schnell abgestempelt werden.“ Gerade solche Gespräche machten auch einen Reiz des Ehrenamtes aus: „Ich nehme viel davon mit, wenn ich sehe, wie das Kind aufblüht und mit Ideen und Träumen ankommt, die es verfolgen möchte. Das ist ein wunderschönes Gefühl.“
„Nehmen wir an, Sie wären die Schulministerin in Nordrhein-Westfalen. Was würden Sie ändern?“, fragt WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock seinen Gast. „Die Schulen müssen besser ausgestattet werden, aber auch die einzelnen Schüler“, sagt Bach. „Ich finde es wahnsinnig wichtig, dass jedem Kind zumindest als Leihgabe ein Tablet mitgegeben wird, damit gleiche Möglichkeiten da sind.“ Mehr Geld könne auch kleinere Klassen ermöglichen, mit der Folge, dass Lehrkräfte individueller auf Schülerinnen und Schüler zuzugehen können. Bach glaubt, „dass man gerade dafür viel mehr die Technik nutzen kann“.
Schon bei den Lehramtsstudenten ansetzen
Es sei aber auch notwendig, dass Politik die Missstände nicht beschönige. Man müsse am besten schon im Lehramtsstudium sensibilisieren, wo Benachteiligung stattfindet. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass Kinder mit Migrationshintergrund bei gleichen Leistungen seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen. Auch im Berufseinstieg, glaubt Bach, könnten „junge Lehrkräfte viel stärker durch Supervision unterstützt werden.“
Weitere Folgen von „Ruhrgebiet, wir müssen reden!“ finden Sie hier:
- Folge 1: Martina Merz, Thyssenkrupp-Chefin
- Folge 2: Christian Stratmann, Theatergründer und -Prinzipal des „Mondpalasts“
- Folge 3: Julia Gajewski, Schulleiterin in Essen-Altendorf
- Folge 4: Gerald Asamoah, Schalke-Legende
- Folge 5: Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen
Auch nach der Pandemie wird Lern-Fair.de“ fortgeführt, dafür sorgt unter anderem eine sehr enge Förderung des NRW-Schulministeriums. Die Zahl der hilfesuchenden Schüler liegt höher als die der Ehrenamtlichen. Abhilfe schaffen auch Kooperationen mit Unis. „Im vergangenen Jahr hatten wir mit der Uni Duisburg-Essen das Projekt „Digitales Lehren lernen“. Lehramtsstudenten konnten bei uns ein digitales Praktikum machen und Erfahrungen sammeln. Das haben wir fortgeführt. Wir bieten nun Seminare für 50 Studierende an. Die bekommen sowohl von uns Input als auch von der Uni – und natürlich werden die Studierenden mit einem Kind gematcht.“ Viele bleiben auch danach ehrenamtlich dabei.
Das Programm sei aber nicht beschränkt auf Studierende. Was man anbieten möchte, kann man auf der Plattform angeben, viel mehr fragt sie gar nicht ab. Die Hürden werden bewusst niedrig gehalten. „Wenn ich mein Lernkind zugeteilt bekommen habe, kann ich flexibel eine Uhrzeit ausmachen und bin schon mit einer Stunde die Woche engagiert dabei“, sagt Bach. „Ich glaube aber auch, dass immer mehr Bewusstsein für die Bildungsungerechtigkeit da ist. Gerade, wenn man Studierender ist und es geschafft hat, kann man sich vielleicht gut hineinversetzen und möchte Türöffner sein für andere.“
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