Essen. Leuchtturm, Baustelle, Fels in der Brandung: Essens erste und größte Gesamtschule feiert Jubiläum. Wie sich die Bockmühle in 50 Jahren veränderte.
Die Gesamtschule Bockmühle in Altendorf wird 50 Jahre alt. Die letzten neun Jahre hat sie vor allem als Baustelle von sich reden gemacht. Nimmt man die Schulzeit von Klasse fünf bis 13, dann hat ein gesamter Jahrgang ausschließlich Unterricht zwischen gesperrten Fluren und abmontierten Deckenverkleidungen, zwischen Gerüsten und Staubschutzvorhängen gehabt; und einige Kinder waren zwei Jahre lang sogar komplett ausquartiert in ein anderes Gebäude.
Passt das als Bild – die Gesamtschule Bockmühle als ewige Baustelle – auch pädagogisch betrachtet?
Kurz noch der Vollständigkeit halber: Rund zehn Millionen Euro sind ab 2013 in die letzten Brandschutzmaßnahmen geflossen, und dann hat die Stadt doch entschieden, dass die Bockmühle neu gebaut werden muss, das ganze Haus ist viel zu marode. Im Jahr 2023 sollen die Arbeiten beginnen.
„Ob ich das als Schulleiterin noch erlebe, dass das neue Gebäude fertig wird, bezweifle ich“, sagt Julia Gajewski, die Schulleiterin, die in etwas weniger als zehn Jahren in Pension gehen wird. Ob die Bockmühle eine Dauerbaustelle sei? „Wir sind ein Fels“, sagt die Pädagogin. „Ein Fels in einer Brandung aus Armut.“
Auch die Essener CDU war angeblich für die neuartige Gesamtschule
Vor 50 Jahren wählten Essener Politiker – es heißt SPD und CDU ausnahmsweise in schönster Eintracht – den Standort Altendorf für die erste Essener Gesamtschule aus. Obwohl die neue Schulform umstritten war und ist; bis heute wird sie in konservativen Kreisen oft als „Gleichmacherschule“ bezeichnet. Doch die Jubiläumsschriften der vergangenen Jahrzehnte besagen: Auch die CDU in Essen wollte die neue Gesamtschule, und sie wollte sie im Essener Westen. Ein Leuchtturm der Bildung sozusagen, beschlossen 1970 vom Rat der Stadt, gegründet und gestartet 1972 in baulichen Provisorien, der Neubau fertig gestellt 1975.
Es war landesweit die Zeit eines bildungspolitischen Aufbruchs; die NRW-Regierung pflanzte Gesamthochschulen in die Uni-Landschaft; auch Arbeiterkinder sollten Abi machen und Leute ohne Hochschulreife an die Uni gehen können. Die Bockmühle wurde mit 50 Millionen D-Mark das größte Schulbauprojekt in Essen nach den Krieg.
Man wollte nicht weniger als eine neue Gesellschaft formen
Diese Aufbruchsstimmung scheint auch an der Bockmühle geherrscht zu haben; der erste Schulleiter, Ernst Winheller, beschrieb in einem Aufsatz, welche Lehrer an die Bockmühle kamen, um nicht weniger als eine neue Gesellschaft zu formen: Es waren jene, die enttäuscht waren von ihrer eigenen Schulzeit nach dem Krieg, die das Gymnasium als „Frontalunterricht mit 45 Kindern in einer Klasse erlebt hatten“, als nichts weiter außer „Disziplin und Unterordnung“.
Und so fing die Bockmühle an, alles ganz anders zu machen: keine Noten, Hausaufgaben sowieso nicht, man war ja Ganztagsschule, und es soll auch Versuche gegeben haben, die Rechtschreibregeln abzuschaffen, alles nur noch klein zu schreiben. Man schrieb Briefe im Namen aller Lehrer an den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon, er möge den Vietnam-Krieg beenden. Eine Stimme aus Altendorf hinaus in die Welt! So war der Anspruch, das Selbstverständnis.
Die kräftezehrende Euphorie hielt der Realität nicht stand
Dass diese kräftezehrende Euphorie nicht den realen Bedingungen standhalten konnte, war klar: „Bisweilen haben wir uns zu viel vorgenommen, weil so vieles wichtig ist oder wichtig wäre“, schrieb ein nachdenklicher Klaus Prepens zum 30. Geburtstag der Schule. Prepens war mehr als 20 Jahre lang Leiter der Bockmühle, erlebte ihren Wandel von einer Schule im einfachen Arbeiterstadtteil hin zu einer Bildungseinrichtung, die sich immer mehr gesellschaftlichen Herausforderungen stellen musste: Migration, Sprachbarrieren, brüske Ablehnung westlich-demokratischer Tugenden in manchen Familien.
Hinzu kam, dass es die Gründung weiterer Gesamtschulen in Essen der Bockmühle nicht gerade leicht machte: Alle Gesamtschulen haben fest abgesteckte Einzugsbereiche; die größte von ihnen – die Bockmühle – den kleinsten Bezirk. Nämlich Altendorf, das sich stark veränderte. „Das“, folgerte Prepens, „veränderte auch die Bockmühle deutlich.“
Schulgarten, Freiarbeit, Lehrer in Teams: Pädagogische Neuerungen oft zuerst an der Bockmühle
Doch vieles, was die Bockmühle als erstes machte, lange bevor es flächendeckend anderswo Methode wurde, blieb erhalten: Schulgarten, Schülerbetriebsfirma, Freiarbeit, das Unterrichten in Lehrerteams.
Und heute? Sei Armut die größte Herausforderung, sagt Julia Gajewski. Zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler kommen aus Familien, die Sozialleistungen beziehen. Armut drücke auf den IQ, belaste mental und psychisch, dazu gebe es ausreichend Studien, sagt die Pädagogin. Fast alle, die in Klasse fünf kommen, haben eine Hauptschulempfehlung. Und trotzdem machen 30 bis 40 junge Leute an der Bockmühle jedes Jahr ihr Abitur.
„Wir sind dafür da“, sagt Julia Gajewski, „den Schülerinnen und Schülern Teilhabe zu ermöglichen. Und damit meine ich nicht das neueste Handy.“ Sondern Teilhabe an dem, was eine Gesellschaft bietet: Wahlen, zum Beispiel. Die Möglichkeit der Gestaltung, der freien Entscheidung, wie man sein Leben leben möchte.
Trotz aller Widrigkeiten ist man an der Bockmühle heute stolz auf das Geleistete: „Unsere Pädagogik hat landesweit einen hervorragenden Ruf“, sagt Julia Gajewski. „Wer bei uns sein Referendariat gemacht hat, kann in jeder Schule arbeiten.“ Was bleiben wird in der Bockmühle, egal, ob in einem alten, kaputten oder neuen, ansehnlichen Gebäude unterrichtet wird: „Der Kampf gegen die gesellschaftliche Entwicklung, dass immer mehr Kinder und Jugendliche abgehängt werden.“