Essen. Redakteur Gerd Heidecke schildert das Leben seiner bald 90-jährigen Mutter nach ihrem plötzlichen Schlaganfall – ein ganz persönlicher Blog.
Schlaganfall – und nichts ist mehr so wie vorher. Seit drei Jahren ist meine Mutter Christa, bald 90, ein Pflegefall, verwirrt, im Rollstuhl sitzend, doch immer noch ein freundlicher, liebenswerter Mensch. Dieser Blog erzählt, was ihr und mir und uns seitdem passiert ist. Was alles passiert ist. Vieles glaubt man zu wissen. Was es bedeutet, weiß man erst, wenn man es erlebt.
Dieser Blog schildert die Dinge bewusst subjektiv und nennt sie beim Namen. Die Namen von Menschen und Einrichtungen tun dabei aber nichts zur Sache. Sie sind geändert, doch nicht alles ist bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Aber hier soll niemand angeklagt werden, auch kein System. Denn hinter dem, was heute unter Pflegenotstand zusammengefasst wird, steckt kein einzelner Fehler im System. Sondern, das ist meine Überzeugung nach diesen drei Jahren, eine Gesellschaft, die einfach nicht gelernt hat, mit einer unaufhaltsam wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen umzugehen.
Ich schreibe diesen Blog, weil ich glaube, dass ganz viele Menschen Ähnliches und Gleiches erlebt haben und sich hier mit ihren Erfahrungen wiederfinden. Und ich hoffe, dass dieser Blog viele Betroffene ermutigt, ebenfalls ihre ganz persönlichen Erlebnisse zu schildern und sie hier zu veröffentlichen, auf Wunsch auch anonym.
Der Unglückstag – "Ihr Anblick ist schockierend"
Darauf kann man nicht vorbereitet sein. „Es sieht schlecht aus“, sagt mein Bruder am Telefon nur. Es klingt wie ein Todesurteil. Unsere Mutter ist morgens im Bad gestürzt, hat sich schwer verletzt. Sie liegt auf der Stroke Unit für Schlaganfallpatienten und ist nicht ansprechbar, rührt sich nicht.
Es ist Freitagmittag, der Tag nach Christi Himmelfahrt 2017, ein warmer, schöner Frühlingstag. Wenn ich meine Mutter noch einmal lebend sehen will, dann muss ich jetzt den ersten Zusammenbruch überwinden, mich von meiner angesichts ihres weinenden Vaters völlig verängstigten elfjährigen Tochter verabschieden. Erst mit dem Fahrrad zurück ins Hotel und dann mit dem Motorrad aus dem Münsterland nach Mülheim. Und ich muss wenigstens versuchen, bei diesem Rennen gegen die Zeit alle Gedanken an den Tod auszublenden und mich nicht noch selbst zu gefährden.
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Ihr Anblick ist schockierend. Das Gesicht wie zerschlagen, ein einziger Bluterguss. Sie hat im Fallen die Heizung aus der Wand gerissen und ist mit dem Kopf auf das Waschbecken gestürzt. Ein Wunder, dass sie sich nichts gebrochen hat. Sie zieht einen schiefen Mund, sie ist anscheinend gelähmt, nicht ansprechbar. Unfassbarer Weise sollte sie im Krankenhaus nicht aufgenommen werden. Ihre Mutter hat nur ein paar blaue Flecken, heißt es. Auf den Bildern sei nichts zu sehen, heißt es. Mein Bruder bleibt beharrlich, ein zweiter Neurologe schaut sich die Bilder an: Doch, hier sind erkennbar Hirnareale nach einem Schlaganfall geschädigt.
Die Rollläden waren am späten Vormittag noch geschlossen
Mein Bruder hat unsere Mutter entdeckt, ihre Rollläden waren ganz untypisch für sie am späten Vormittag noch geschlossen. Der Schlag muss sich früh morgens getroffen haben, wahrscheinlich bereits vor sieben Uhr. Für Akutmaßnahmen, um die Folgen eines Schlaganfalls abzumildern, ist es deshalb im Krankenhaus bereits viel zu spät.
270.000 Menschen in Deutschland erleiden jedes Jahr einen Schlaganfall, doch es ist kein Schicksal. Es hätte einfach bei meiner Mutter nicht passieren müssen. Nur ein paar Tage zuvor war wegen ihres anhaltenden Unwohlseins ein EKG angefertigt worden, der Hausarzt hatte die katastrophalen Ergebnisse gesehen. Doch statt sie direkt ins Krankenhaus einzuweisen, rät er nur eindringlich zum sofortigen Besuch eines Facharztes. Dazu kommt es wegen des Feiertags nicht mehr.
Blutgerinnselbildung auf Grund von starkem Herzflimmern, hervorgerufen durch anhaltend sehr hohen Blutdruck – dieser Schlaganfall hätte sich im Krankenhaus bis zuletzt mit hoher Wahrscheinlichkeit vermeiden lassen. Und wenn es an dieser Stelle noch so unpassend erscheint, stimmt es dennoch: Kosten von bereits jetzt über hunderttausend Euro wären bei einer frühzeitigen Behandlung nicht angefallen.
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Manchmal denke ich: "Wir hätten ihn verklagen sollen"
Wir haben dem Hausarzt keine Vorwürfe gemacht. Doch er hat erkennbar ein schlechtes Gewissen. Seitdem wird uns in der Praxis jeder Wunsch erfüllt, jede Bescheinigung, jedes Rezept sofort ausgestellt, nicht er, aber seine angestellte Ärztin kommt zu Hausbesuchen. Manchmal denke ich dennoch: Wir hätten ihn verklagen sollen.
Meine Mutter Christa Heidecke hatte auch mit 86 Jahren noch selbständig gelebt, hatte eingekauft, gekocht, gesorgt. Bis vor kurzem war sie noch Auto gefahren. Alles war bereitet, dass sie in ihrem komplett dafür modernisiertem Geburtshaus auch bis zum letzten Tag bleiben könnte: Umzug in die renovierte alte Erdgeschosswohnung ihrer Eltern, in der sie groß geworden ist, Rollstuhl-gerechte Dusche, verbreiterte Türen, mehr Licht durch ein vergrößertes Fenster zum Garten, eine neue Hollywoodschaukel und eine schnell wachsende Magnolie auf dem Rasen, die ihr noch Schatten spenden soll.
Und alles schien in Ordnung zu sein. Natürlich war ihr das Alter anzumerken. Manche Dinge erzählte sie vielleicht mehrfach, eine neue Fernbedienung ließ sich ihr nicht mehr erklären, aber mit über 85? Über Pflege, Heim, Tod haben wir eigentlich nie gesprochen. Bereits vor Jahren hatte sie eine Patientenverfügung beim Notar hinterlegt. Sie wollte einfach nicht, dass ihr Leben am Ende auf einer Intensivstation mit Apparaten künstlich verlängert wird.
"Es hätte eine Warnung sein müssen"
Doch wie sich nach dem Unglückstag herausstellt: Es war längst nicht mehr alles in Ordnung mit ihr. Schwindel und Müdigkeit in den letzten Wochen waren nicht Folge einer gerade grassierenden Grippe, wie ich dachte. Eine leichtfertige Fehleinschätzung, eine Mitschuld, die sich nicht gutmachen lässt.
Nach dem Schlaganfall offenbarte das Chaos angebrochener, leerer, ungeöffneter Tablettenschachteln in ihrem Badezimmerschrank: Sie hatte schlicht die Kontrolle über die Medikamenteneinnahme verloren. Deshalb auch das langwierige, unerklärliche Auf und Ab bei ihrem Blutdruck und Puls, eine Folge von unbemerkten Über-, Unter- und Fehldosierungen.
Später offenbart auch das Durcheinander bei Verträgen und Finanzen, das sie ihr Leben nicht mehr so im Griff gehabt hatte, wie ich es hatte glauben wollen. Bei ihrem älteren Bruder hatten wir einige Jahre davor noch kopfschüttelnd-verständnislos darüber gelacht, dass er auf jeden Telefonverkäufer hereinfiel und Haustürbetrüger wie der angebliche Messerschleifer und der falsche Polizist sich die Klinke in die Hand gaben. Es hätte eine Warnung sein müssen. Meine Mutter war am Ende überfordert. Ich hätte es wissen müssen, dass sie das nie zugegeben hätte. Weniger aus Stolz, sondern weil sie, typisch für viele Frauen in ihrer Generation, ihre eigenen Bedürfnisse ein Leben lang in den Hintergrund gedrängt hatte.
Mehr zum Blog "Plötzlich Schlaganfall"
Dies ist der erste Teil unseres Blogs zum Thema Pflege. Die weiteren Folgen können Sie hier nachlesen:
- Folge 2: Plötzlich Schlaganfall - vom Krankenhaus in die Reha-Klinik
- Folge 3: Plötzlich Schlaganfall - wenn die Pflege zur Belastung wird
- Folge 4: Plötzlich Schlaganfall - der Glücksfall aus Polen
- Folge 5: Plötzlich Schlaganfall - ein schwerer Rückschlag
- Folge 6: Plötzlich Schlaganfall - "Meine Mutter muss ins Heim"
- Folge 7: Plötzlich Schlaganfall – ein neuer Anfang in der Demenz-WG