Essen. Die polnische Pflegekraft Grazyna muss die Familie verlassen. Doch mit ihrer Vertretung sind Mutter und Sohn alles andere als zufrieden.
Redakteur Gerd Heidecke schildert das Leben seiner bald 90-jährigen Mutter nach ihrem Schlaganfall – Teil fünf eines ganz persönlichen Blogs.
Der deutsche Pflegedienstvermittler engagiert sich wenig, eine Vertretung für Grazyna zu stellen. Dabei zahlen wir jeden Monat über 200 Euro an ihn, eigentlich für nichts. Nicht einmal kommt vom Vermittler jemand zu uns. Wir sind vertraglich an den Vermittler gebunden. Falls wir Grazyna direkt beschäftigen, müssten wir eine hohe Konventionalstrafe bezahlen. Ein Anrecht auf eine gleichwertige Vertretung für sie haben wir nicht. Wir müssen nehmen, was kommt.
Zu Ostern 2018 müssen wir zum ersten Mal mit einer Ersatzfrau für Grazyna auskommen. Es ist eine zufällige Pflege-Bekanntschaft, die Grazyna in Mülheim kennengelernt hat. Ewa spricht gut Deutsch und sie ist eine gute Pflegekraft. Normalerweise pflegt sie einen bettlägerigen Senioren. Dafür ist sie bestimmt genau die Richtige, denn mit dem vollständig dementen Mann kann man nicht mehr reden. Sie ist sehr verschlossen und kann sich mit meiner Mutter einfach nicht unterhalten. Sie wirkt herzlos, was sie sicher nicht ist, wie ich feststelle. Jedoch muss man ihr alles entlocken. Sie selbst meldet sich nur, wenn das Haushaltsgeld aufgebraucht ist. Bald zählen wir die Tage bis zu Grazynas Rückkehr.
„Große Katastrophe“
Und es wird viel, viel schlimmer werden als mit dieser ersten Vertretung. Obwohl ich mich nach den Erfahrungen mit Ewa sofort um eine Vertretung für den Sommer bemühe, lässt uns der Pflegedienst-Vermittler buchstäblich bis zum letzten Tag vor Grazynas erneuter Heimreise hängen, vertröstet uns, ruft nie zurück, hat angeblich jemand, dann wieder nicht, dann doch.
Kurz vor Grazynas Abreise reist die Vertretung aus Polen an, es ist ein Schock. Die Frau ist über 70, ganz genau lässt sich das nie in Erfahrung bringen, denn sie macht unterschiedliche Angaben. Ewa 2, wie wir sie wegen der Namensgleichheit nennen, ist allgemein sehr ungepflegt und hat keine Schneidezähne mehr. Da ihre Zehen stark deformiert sind und übereinander gewachsen, kann sie sich selbst kaum auf den Beinen halten, geschweige denn, meiner Mutter eine echte Hilfe zu sein. Sie macht keinen intelligenten Eindruck. Zwei Wörter bringt sie als Deutschkenntnisse mit: „Große Katastrophe“. Sie ist das genaue Gegenteil von Grazyna. Sie kann schlichtweg nichts bewältigen, hat bestimmt noch nie jemanden gepflegt. Bei jeder Kleinigkeit sucht sie telefonisch Hilfe bei Grazyna in Polen, die das natürlich nicht leisten kann. Oder sie versucht es mit Google-Übersetzer. Meine Mutter lehnt sie sofort ab, wird aggressiv, wenn Ewa 2 sie versucht zu berühren.
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Wir machen den großen Fehler, es dennoch zumindest erst einmal mit Ewa 2 zu versuchen. Im Endeffekt tut man ihr auch keinen Gefallen damit, denn sie ist ja kein schlechter Mensch, nur hoffnungslos überfordert. Wer weiß, mit welchen falschen Versprechungen man sie in diese Situation gelockt hat? Ob sie je von ihrer Agentur ihr Geld erhalten hat? Ich zweifele daran. Irgendwann ist sie über Nacht verschwunden. Ihre Agentur wollte sie noch zwingen, zwei Wochen in der leeren Wohnung zu bleiben, um diese Zeit vertragsgemäß abrechnen zu können. Einmal im Jahr bekomme ich Post von einer polnischen Vollstreckungsagentur, die dafür noch Geld von uns haben wollen, Mahnschreiben, Drohungen. Warschau inkasso sozusagen. Ich werfe sie in den Müll.
Pflegebedürftige Mutter stürzt und bricht sich die Hüfte
Wir hätten das einzig Richtige, das naheliegende tun müssen und Ewa 2 sofort nach Hause schicken sollen. Doch wir haben damals ja schlicht keine Alternative mehr. Der Pflegedienstleister stellt sich taub. Ein Pflegedienst ist nicht zu bekommen. Es soll irgendwie gut gehen, aber das tut es nicht.
Nach wenigen Tagen mit Ewa 2 stürzt meine Mutter bei dem wiederholten Versuch, alleine aufzustehen, und bricht sich dabei die linke Hüfte. Ewa 2 ist, so weit sich das feststellen lässt, währenddessen im Garten zum Rauchen, was sie sehr häufig tut. Sie ist nicht in der Lage, einen Krankenwagen zu rufen, muss erst eine Nachbarin im Haus um Hilfe bitten. Als Folge des Sturzes wird meine Mutter nicht wieder auf dem Bein stehen können. Jeder Toilettengang wird in Zukunft noch mehr zu einem kaum noch kalkulierbaren Risiko werden.
Meine Tochter und mich erreicht die Nachricht mitten in der Woche Wohnmobilurlaub in Norden an der Nordsee. Wir entscheiden, den Urlaub nicht abzubrechen, weil wir wenig tun könnten und meine Brüder sich um alles jetzt Notwendige kümmern wollen. Und auch das erweist sich noch als die falsche Entscheidung.
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Dekubitus-Vorbeugung wird "unfassbarer Weise" unterlassen
Meine Mutter wird im selben Krankenhaus operiert, in dem sie nach dem Schlaganfall behandelt worden ist. Mit ihrer nun künstlichen Hüfte wird sie auf der speziellen geriatrischen Station für alte Menschen untergebracht. Was diese Station als geriatrische Station auszeichnet, bleibt unklar. Man achtet im Schwesternzimmer an der Ausgangstür darauf, dass demente Patienten die Station nicht einfach verlassen, was aber dennoch passiert. Die Zimmertüren sind rollstuhlgerecht etwas breiter und farblich markiert, um das Wiederfinden zu erleichtern.
Die wichtige, in solchen Fällen selbstverständliche Dekubitus-Vorbeugung wird bei meiner Mutter unfassbarer Weise unterlassen. Als ich sie aus dem Urlaub eine Woche nach ihrer Operation wiedersehe, hat sich ein die ganze Ferse umfassender Dekubitus gebildet. Dabei weiß jeder in der Pflege, dass diese Stelle bei unbeweglichen Bettlägerigen besonders gefährdet ist, sich zuerst durchzuliegen. Der Dekubitus meiner Mutter wird sich bis heute nicht wieder komplett zurückbilden, trotz aller Bemühungen und monatelanger ambulanter chirugischer Behandlung mit dem immer wieder vorgenommenen Wegschneiden der schlimmen schwarzen, faulenden Stelle, die nur ganz langsam etwas kleiner wird und sich bei der kleinsten Belastung verschlimmert.
Es ist unfassbar. Man hätte einen sogenannten Heel-Lift zur Entlastung der Ferse im Sanitätshaus bestellt, aber er sei nicht gekommen, heißt es auf Station zur Rechtfertigung. Dafür könne man schließlich nichts. Dabei hat das große Sanitätshaus aus Essen eine Filiale in Mülheim, keinen Kilometer vom Krankenhaus, und soll ist nicht möglich sein, innerhalb von mehreren Werktagen eine serienmäßige Schaumstoffschiene, die keine individuelle Anpassung nötig hat, zu liefern? Und niemand fühlt sich verantwortlich?
"Hätte ich aufgrund des Behandlungsfehlers Klagen sollen?"
Es gibt Streit, ich bin einfach nur wütend über die Borniertheit, nicht einfach beim Sanitätshaus nachzuhören, wenn eine wichtige Lieferung ausbleibt. Es ist Samstagnachmittag, kurz vor Geschäftsschluss. Die Filiale in Mülheim ist natürlich bereits geschlossen. Ich fahre sofort nach Essen in die gerade noch geöffnete Zentrale, kaufe dort einen Heel-Lift und bin in weniger als 90 Minuten zurück. Im Sanitätshaus erfahre ich, dass die im Krankenhaus ausgebliebene Bestellung an die Privatadresse und auf Rechnung meiner Mutter geliefert werden sollte. Anscheinend wollte man als Krankenhaus die Kosten sparen, deutlich weniger als 100 Euro – ein Bruchteil der späteren Behandlungskosten. Hätte ich aufgrund des Behandlungsfehlers Klagen sollen? Damals war ich zu entnervt, und Geld heilt kein Wunden. Heute denke ich: Vielleicht hätte man es aus Prinzip doch tun sollen.
Es passieren noch andere Dinge auf der Station, bei denen man nur noch mit dem Kopf schütteln kann. Am Entlassungstag muss meine Mutter trotz ihrer Schmerzen beim Sitzen stundenlang auf dem Flur auf den Transport nach Hause warten, einfach rücksichtslos. Zum Abschluss verschwinden auf der Station ihre beiden sehr teuren Hörgeräte, warum auch immer sie nicht zu ihren übrigen Sachen gelegt wurden. Wenigstens bezahlt die Haftpflichtversicherung des Krankenhauses dafür, und das sogar in einer akzeptablen Zeit. Beim nächsten Verlust der daraufhin neu angeschafften Hörgeräte im Heim warten wir jetzt bereits seit über einem halben Jahr auf die Entschädigung durch die Versicherung, Klage diesmal nicht ausgeschlossen.
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Der Sturz und die Folgen sind ein schwerer Rückschlag. Grazyna bemüht sich nach ihrer Rückkehr nach Kräften. Ganz langsam geht es wieder aufwärts. Nur einen positiven Nebeneffekt hat die große Katastrophe mit Ewa 2 gehabt. Frühzeitig wird eine Vertretung für Grazyna angekündigt, die sogar vor den Weihnachtstagen 2018 anreist. Maria ist zwar eine zierliche ältere Dame, eigentlich hoch qualifizierte Technikerin für Keramikherstellung. Doch sie hat Erfahrung in der Pflege, spricht gerne und sehr gut Deutsch und bewältigt alle Aufgaben souverän. Sie arbeitet auf eigene Rechnung ohne zwischengeschaltete Agentur in Polen und verdient deshalb mehr. Und zu Ostern erhalten wir im vierten Anlauf erstmals einen Kurzzeitpflegeplatz in dem schön gelegenen Heim am Fluss, nachdem wir unsere Beziehungen eingesetzt haben.
Mehr zum Blog "Plötzlich Schlaganfall"
Lesen Sie hier ab Donnerstag, 30. Juli, die nächste Folge: Plötzlich Schlaganfall - "Meine Mutter muss ins Heim".
Die bisher erschienenen Folgen des Blogs können Sie hier nachlesen: