Essen. Die Pflege seiner bald 90-jährigen Mutter wird für Gerd Heidecke zur Belastung. Eine Pflegekraft aus Polen soll die Familie unterstützen.
Redakteur Gerd Heidecke schildert das Leben seiner bald 90-jährigen Mutter nach ihrem Schlaganfall – Teil vier eines ganz persönlichen Blogs.
Wo anfangen, wenn man eine Pflegerin sucht? Das Internet wimmelt von Vermittlern mit ähnlich klingenden Versprechungen im Namen. Die Wörter Pflege, Hilfe, Betreuung, Leben, Senioren fehlen selten, oft im Kombination mit 24. Niemand weiß genau, wie viele Pflegerinnen – Männer stellen weniger als zehn Prozent – hier ihre Dienstleistung erbringen, weil die meisten schwarz arbeiten. Die Schätzungen schwanken zwischen 100.000 und 300.000 Frauen, fast ausschließlich aus den Billiglohnländern im Osten Europas. Die größte Gruppe stammt aus dem Nachbarland Polen.
Schwarzarbeit in der häuslichen Pflege in Deutschland ist sozial nicht geächtet und wird praktisch nicht verfolgt. Die gesetzlichen Regeln sind einfach zu umgehen, besonders für EU-Bürger. Mindestlohn, Arbeitszeitvorschriften, Sozialversicherungspflicht, Steuern, Scheinselbstständigkeit – alles kein Thema. Unsere Pflegerin erzählt: Eigentlich ist sie Friseuse und verdient in Polen keine 300 Euro im Monat. Als Pflegerin würde sie in ihrer Heimat keine 500 Euro verdienen. Als Pflegerin in Deutschland erhält sie fast 1500 Euro. Da fragt keine mehr nach 5-Tage- oder 40-Stunden-Woche
"Den Großteil des Lohns zahlt man schwarz"
Wir wollen damals aus prinzipiellen Gründen eine legale Beschäftigung. Sie kostet 1900 Euro im Monat. Nicht die Hälfte davon gibt es in diesem Fall von der Pflegekasse. Im Nachhinein würde ich das anders entscheiden. Eine Pflegerin selbst suchen und als Minijobberin anstellen, dann haben beide Seiten eine günstige Absicherung. Den Großteil des Lohns zahlt man schwarz. Eine uns empfohlene, von Polnischstämmigen gegründete Vermittlungsagentur, die auch die 24 im Namen trägt, schlägt uns schriftlich drei Frauen vor. Alle haben gute Deutschkenntnisse angegeben. Das heißt aber wenig. Denn wer keine Deutschkenntnisse angibt, bekommt schlechter einen Job. Später werden wir eine Aushilfe haben, die zwei Wörter Deutsch als Kenntnisse mitbringt: „Große Katastrophe“.
Die etwas stämmige Frau mit den rot gesträhnten Haaren – Grazyna – dies ist nicht ihr richtiger Name – ist erst Anfang 30. Viele der polnischen Pflegerinnen sind bereits im Rentenalter. Grazyna wirkt am Telefon so zupackend sympathisch wie auf ihrem Passbild, und ich kann mich mit ihr auf Anhieb, wenn auch radebrechend, auf Deutsch unterhalten. Sie reist nach Neujahr an, ein Neubeginn.
Pflegekraft aus Polen ist ein Glücksfall
Grazyna ist ein Glücksfall. Sie ist ebenso freundlich wie zupackend, nicht zu stoppen, weder mit den Händen noch mit dem Mund. Von der Ankunft mit einem schäbigen, fast einen Tag dauernden Minivan-Sammeltransport aus Polen weg schmeißt sie den Laden. Sie wohnt in der Wohnung meiner Mutter in deren ehemaligen Schlafzimmer. Alles kann man ihr anvertrauen, nie werden wir enttäuscht werden. Was dabei am Wichtigsten ist: Sie ist ehrlich interessiert an meiner Mutter, und die beiden verstehen sich auf Anhieb. Eine riesige Last wird in einem Augenblick von unseren Schultern genommen.
Das Mittagessen kommt jetzt nicht mehr auf Rädern in zu teuer bezahlter Krankenhausqualität. Grazyna kocht, wie es sie ihre Metzgerfamilie gelehrt hat: nahrhaft, deftig, fettig, fleischig – lecker, wenn man es so mag. Grazyna bringt unsere Mutter sogar wieder auf die Füße. Sie schafft bald ein paar Meter mit dem Rollator durch den Garten. Eigentlich muss man davon ausgehen, dass durch einen Schlaganfall verlorene Fähigkeiten nur im ersten halben Jahr wiedererlangt werden, danach verbessert sich kaum noch etwas. Doch dank Grazyna, die schon zur Familie gehört, blüht unsere Mutter förmlich auf, und die Spuren des Schlaganfalls verschwinden aus ihrem Gesicht.
"Dutzende Menschen werden durch die ganze Stadt hin und her gekarrt"
Auch die Tagespflege können wir bald vergessen. Grazyna unterhält meine Mutter, die so viel lacht wie selten zuvor. Zeitweise wurde sie dreimal in der Woche morgens gegen acht Uhr als erste mit einem Lieferwagen-Sammeltransport abgeholt und am späten Nachmittag als letzte von der Tagespflege zurückgebracht.
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Dies ist ein typisches Pflege-Unterkapitel für sich: Die Tagespflege unseres bisherigen Pflegedienstes ist großartig, engagiert, bemüht. Aber der Transport dorthin dauert manchmal über anderthalb Stunden, weil ein halbes Dutzend Menschen durch die ganze Stadt hin und her gekarrt werden müssen, teils im Berufsverkehr. Dabei ist der Weg eigentlich gar nicht weit, höchstens 20 Minuten mit dem Auto. Den Transport übernimmt der große alteingesessene deutsche Wohlfahrtsverein mit 150 Millionen Euro Jahresumsatz und 180.000 Beschäftigten, der auch das Essen auf Rädern bringt. Er setzt für die Tagespflegetouren unkomfortable Großraumpersonentransporter ein, also bestuhlte Lieferwagen, die oft von sehr jungen Leuten gänzlich ohne Erfahrung als Berufskraftfahrer noch als Pflegekraft gesteuert werden.
Abgerechnet wird die Tagespflege-Fuhre für jeden einzelnen mit dem selben Satz, den die Fahrt für jeden einzeln mit einem Rollstuhltaxi kosten würde. Dies erscheint als typischer Fall, wie im Pflegesystem jeder zur Verfügung stehende Euro aufgesogen wird, und zwar ohne Rücksicht auf die Menschen, um die es eigentlich geht.
Grazyna darf nicht blieben
Die Tagespflege-Fahrer sind dieselben, überwiegend jungen Männer, die auf Rädern das Mittagessen bringen und lieber energisch schellen, als unter Dutzenden anderen an ihrem dicken Bund den richtigen Schlüssel herauszusuchen. Ihre Freundlichkeit fällt individuell sehr unterschiedlich aus, besonders, wenn sie kritisiert werden. Meine Mutter steht am Ende der Lieferkette, da kommt es schon mal vor, dass nicht das bestellte Essen im Wagen ist. Professionell hilfsbereit und ein Dienstleister ist die Frau an der Hotline des Essensdienstes auf Rädern. Doch kann auch sie nicht 100 Kunden beispielsweise über eine kurzfristige Verspätung der Essen-Lieferung informieren. Und aus Kulanzgründen dann die Rechnung kürzen, das darf sie nicht.
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Aber wir haben ja jetzt Grazyna. Das Problem ist nur: Grazyna kann nicht ewig bleiben. Sie darf es aus versicherungstechnischen Gründen nicht. Sie muss für die viel billigere Sozialversicherung immer wieder nach zwei bis drei Monaten zurück nach Polen und dort ihren Lebensmittelpunkt behalten. Und sie will das natürlich auch, denn ihr Mann arbeitet seit Jahren auf Montage im Benelux-Raum, und die beiden sehen sich sowieso viel zu selten. Da ist der Computerchat und das Videotelefonat zu wenig.
Mehr zum Blog "Plötzlich Schlaganfall"
Lesen Sie hier ab Mittwoch, 29. Juli, die nächste Folge: Plötzlich Schlaganfall - ein schwerer Rückschlag.
Die bisher erschienenen Folgen des Blogs können Sie hier nachlesen: