Essen. Nach einem Sturz muss Christa Heidecke erneut ins Krankenhaus. Diesmal weigert sich ihr Sohn, sie wieder mit nach Hause zu nehmen.

Redakteur Gerd Heidecke schildert das Leben seiner bald 90-jährigen Mutter nach ihrem Schlaganfall – Teil sechs eines ganz persönlichen Blogs.

So könnte die Geschichte hier wie im Märchen schließen, „Ende gut, alles gut“. Das tut sie jedoch nicht. Bei ihrem zweiten Kurzzeitpflege-Aufenthalt in dem Heim an der Ruhr stürzt sie abends aus dem Bett. Der Anruf des Nachtpflegers erreicht mich am 26. Juli 2019, am letzten Abend des Sardinien-Urlaubs mit meiner Tochter kurz vor Mitternacht.

„Ihre Mutter ist hingefallen und hat Schmerzen in der Hüfte, was sollen wir machen?“, fragt er mich allen Ernstes am Telefon, 1500 Kilometer entfernt. Wie soll ich das allen Ernstes von dort aus entscheiden? Oder geht es im Heim nur darum, die Verantwortung abzuschieben? Nachher stellt sich heraus, dass bei meiner Mutter entgegen der ausdrücklichen Vereinbarung das Bettgitter nicht hochgezogen worden ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wollte sie aufstehen, um alleine zur Toilette zu gehen und ist dabei erneut auf die linke Hüfte gefallen.

"Sie schreit vor Schmerz bei jeder Bewegung"

Ich will nicht, dass meine Mutter nach Mitternacht ins Krankenhaus gebracht wird, wo die Untersuchung in der Nacht zum Samstag mit Sicherheit stundenlang dauern würde. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass ihre Hüfte zum Glück nicht gebrochen ist. Als ich sie wiedersehe, liegt sie zusammengekrümmt im Bett, ein Häufchen Elend. Am Montag hole ich sie aus dem Heim ab. Unüblicherweise hat man meine Mutter mit ihren Sachen im Rollstuhl bereits vor die Tür geschoben, fast schon zurechtgemacht. Und anscheinend ist sie mit Medikamenten ruhiggestellt. Und es gibt auch keine Formalitäten. Und zuhause zeigt sich, warum man anscheinend meine Mutter abholbereit wie ein Päckchen vor die Tür gestellt hat. Sie schreit vor Schmerz bei jeder Bewegung. Ich kann sie nicht allein aus dem Rollstuhl holen, geschweige denn zur Toilette bringen. Mit allergrößter Mühe bekomme ich sie ins Bett.

Ich bin verzweifelt. Natürlich gibt es keinen Pflegedienst in den Sommerferien, der helfen könnte. Zu allem Überfluss will Maria ihre für Mitte der Woche geplante Anreise verschieben. In einer heftigen telefonischen Auseinandersetzung gibt sie zu, dass sie einfach etwas anderes angenommen hat, ohne uns zu informieren. Mehrfach hat sie nicht die Wahrheit gesagt. Damit ist das Vertrauensverhältnis zerstört.

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Aber die zierliche Maria hätte meine Mutter nicht mehr pflegen können. Ich schaffe es selbst nicht mehr. In meiner Verzweiflung fällt mir nur noch eins ein. Ich bitte den Hausarzt um einen letzten Gefallen. Er soll meine Mutter ins Krankenhaus einweisen. Und das tut er auch. Bei den Untersuchungen stellt sich heraus, was zuvor schon klar war. Mein Mutter hat keine Verletzungen in dem Sinne. Sie bleibt eine Nacht zur Beobachtung, und danach weigere ich mich einfach, sie wieder mit nach Hause zu nehmen.

Krankenhaus bemüht sich um einen Platz im Altenheim

Das setzt den Apparat in Gang. Das Krankenhaus, das praktisch kein Geld für den Aufenthalt unsere Mutter erhält, bemüht sich intensiv um einen Platz in einem Altenheim, möglichst akut zur Kurzzeitpflege, dann dauerhaft. Und schon nach wenigen Tagen habe ich ein Gespräch mit der Pflegeleiterin eines Heims in Mülheim. Es ist ein städtische Einrichtung, früher eine verrufene Bruchbude, doch vor nicht allzu langer Zeit ansprechend renoviert. Mit einem großen Garten inklusive Fischteich und sogar Schildkröten, in Rollstuhl-gerechter Entfernung an einem schönen alten Park mit hohen Bäumen gelegen. Doch niemals wird jemand vom Personal, das dafür bestimmt zu wenig Zeit hat, meine Mutter in den Garten bringen, der nur dann nicht leer bleibt, wenn Besucher die Bewohner hierhin bringen.

Vor der Eingangstür des Heims ist eine Bushaltestelle aufgebaut, inklusive Wartebänken und einem Haltestellenschild mit dem Namen des Heims. Ein Bus fährt von hier nie ab, der Fahrplan ist leer. Es ist eine Endstation.

Aber am Anfang sieht also erst einmal gut aus. Das Gespräch mit der Pflegeleiterin verläuft toll, meine Mutter zieht in ein helles und freundliches und ausreichend großes Zimmer. Das gleich am ersten Abend weder wie vereinbart das Niederflurbett in ihrem Zimmer steht noch ein Sturzmatte vor dem Bett liegt, soll sich als Vorzeichen erweisen. Ich bestehe darauf, dass der Pfleger sofort eine Matte besorgt. Er findet ein nicht sauberes, altes Exemplar irgendwo im Keller.

Streit mit Heim und Ämtern

Das ist sofort das lebensgefährliche Problem mit dem scheinbar so schönen Heim: Meine Mutter versucht immer wieder, alleine aufzustehen, um zur Toilette zu kommen, was sie einfach nicht mehr kann. Ermahnungen helfen da nicht mehr, sie hat es sofort wieder vergessen. Aber die Heimleitung weigert sich, das Bettgitter hochzuziehen oder nachts die Tür zum Badezimmer zu verschließen. Die Anordnung der Toilette ist in meinen Augen bei einem Sturz eine böse Falle. Doch für sogenannte „freiheitsentziehende Maßnahmen“ müsste ich mir eine richterliche Anordnung besorgen. Schließlich ist meine Mutter nicht entmündigt und ich bin noch nicht ihr Betreuer.

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Bis zu einer richterlichen Anordnung dauert es Wochen, Monate: Antrag stellen, Begutachtung abwarten, Entscheidung. Doch aus den bisherigen Erfahrungen heraus, dass immer alles so passiert, wie es passieren muss, will ich diesmal nicht darauf setzen, dass es schon irgendwie gut gehen wird. Beim ersten Mal, als es gut gehen sollte, hatte sich meine Mutter die Hüfte gebrochen und konnte dann nicht mehr laufen. Nach dem zweiten Mal, als sie beim Aufstehen gestürzt ist, musste sie ins Heim. Was passiert bei einem dritten Mal? Die Gefahr ist einfach real, dass sie das nicht überleben würde. Und es muss ja nicht einmal gutgehen, oder zehnmal, auch nicht hundertmal. Es müsste tausendmal in einem Jahr gutgehen, und das würde es eben ganz bestimmt nicht. Wer das nicht sehen will, verschließt die Augen vor der Wirklichkeit.

"Lässt man Kinder auf der Klippe balancieren?"

Es ist menschlich, doch es gibt kaum Dümmeres, als sehenden Auges in die Katastrophe zu tun. Also kämpfe ich. Es ist ein Kampf, den man nicht gewinnen kann. Der städtische Pflegedienstleiter argumentiert wirklich so: „Überlegen Sie, Herr Heidecke, wenn Ihre Mutter nach drei Monaten tatsächlich hinfällt und stirbt, dann hat sie wenigstens drei Monate lang selbstbestimmt gelebt.“ Da fällt es schwer, ruhig zu bleiben. Ich halte das für menschenverachtend, und das sage ich ihm auch ganz deutlich. Es ist für mich die „Freiheit“ dementer Menschen, sich selbst zu schaden, bis zur Tötung, reiner Zynismus, ein hohles ideologisches Konstrukt. Lässt man Kinder auf der Klippe balancieren?

Der Betreuungsrichter am Amtsgericht, der über das Bettgitter entscheidet, entscheidet auch über meinen Antrag, die alleinige Betreuung meiner Mutter zu übernehmen, denn es geht nach Buchstabe. Vor dem ersten Gespräch mit mir hat die Leitung der städtischen Altenheime mit ihm gesprochen. Der Richter ist vorab informiert, man kennt sich, daraus macht er keinen Hehl. Ich fühle mich bedroht. Mehrfach versucht man, mir im Laufe des Verfahrens, die Betreuung auszureden. Das geht bis hin zu Fragen, ob ich dann das kleine Haus meiner Mutter verkaufen wolle.

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Die Leitung der städtischen Altenheime leg mir nahe, ich solle ein anderes Heim für meine Mutter suchen. Ich müsste auch die Kündigungsfrist nicht einhalten und die Kosten würden tagesgenau abgerechnet. Bis Ende September müssen wir durchhalten, dann finde ich eher zufällig im Ärztehaus meines Hausarztes einen freien Platz in einer Demenz-WG, den ich sofort annehme.

Mehr zum Blog "Plötzlich Schlaganfall"

Die bisher erschienenen Folgen des Blogs können Sie hier nachlesen: