Essen. Werden Menschen zu früh aus dem Krankenhaus in die Pflege abgeschoben? “Ja“, sagt Gerd Heidecke, als seine Mutter in die Reha-Klinik kommt.

Redakteur Gerd Heidecke schildert das Leben seiner bald 90-jährigen Mutter nach ihrem Schlaganfall – Teil zwei eines ganz persönlichen Blogs.

Wir sind drei Brüder, im Abstand von jeweils fünf Jahren geboren: 1957, 1962, 1967. Wir wechseln uns ab, damit außerhalb der Nachtzeit immer jemand an ihrem Bett wacht. Man würde jetzt gerne alle Mögliche tun, doch mehr kann man eben nicht machen als daneben zu sitzen und dem Stöhnen der Maschinen zuzuhören.

Meine Mutter ist mit einer Unzahl von Schläuchen und Kabeln verbunden und an alle möglichen Geräte angeschlossen. Man ist froh, dass es das alles gibt, und trotzdem macht es Angst. Ihr Blutdruck schießt immer wieder bedrohlich in die Höhe, weit über die Schwelle von 200. Automaten übernehmen die Medikamentengabe. Die Schwestern und Pfleger sitzen zentral und überwachen die Patienten per Monitor. Einige Betten auf der Stroke Unit sind frei. Darüber kann man sich wundern. Gibt es nicht angeblich überall zu wenige Akut-Betten für Schlaganfallpatienten? Auf der Station heißt es: Wir haben zu wenig Personal, um alle Betten belegen zu können.

"Sie glaubt, sie sei zur Entbindung ins Krankenhaus gekommen"

Als sie nach einigen Tagen auf eine normale Station verlegt wird, ist immer noch nicht klar, was der Schlaganfall bei ihr bewirkt hat, welche Teile ihres Gehirns betroffen sind. „Rechtshirniger Mediainfarkt, kardioembolischer Genese mit hochgradiger Hemiparese links“ steht später auf dem Attest. Manchmal öffnet sie das nicht zugeschwollene Auge, versucht die Lippen zu bewegen. Dann der Schock. Eines Morgens verlangt sie danach, ihre Tochter zu sehen. „Bringt mir mal die Kleine“, kann ich verstehen. Sie ist ganz euphorisch, denn sie glaubt, sie sei zur Entbindung ins Krankenhaus gekommen. Zur Geburt des Mädchens, das sie sich immer so sehnlich gewünscht, aber nie bekommen hatte. Es ist der schreckliche Augenblick, in dem die Hoffnung stirbt. Schlagartig wird mir klar, dass meine Mutter nie wieder so sein wird wie zuvor, dass ihr Geist verwirrt bleiben wird. Ich drehe mich von ihr weg, damit sie meine Tränen nicht sieht.

Vor dem unlösbaren Konflikt werde ich noch oft stehen. Zuerst will man ihr einfach nur die Wahrheit sagen: Du bist nicht zur Entbindung hier. Deine Eltern leben schon lange nicht mehr, sie müssten doch über 120 Jahre alt sein. Das Krankenhaus hält sie wegen des weiten Himmel-Blicks aus einer der obersten Etagen für ein Schiff. Doch was ehrlich gemeint ist, kommt bei ihr als Hiobsbotschaft an: Meine Eltern sind tot! Irgendwann ergibt man sich. Ja, wir kümmern uns um Oma und Opa. Zuhause ist alles in Ordnung. Sie kommen bald vorbei. Ich habe es stets gehasst, wenn alte Menschen so beschwichtigt werden wie Kleinkinder. Jetzt tue ich es selbst.

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Viel passiert medizinisch im Krankenhaus nicht. Fälle von Pflege sind nicht vorgesehen, schon gar nicht über Wochen. Deshalb versuchen die Krankenhäuser, „Austherapierte“, wie das so unschön heißt, möglichst rasch in Heimen unterzubringen. Meistens gibt es keine Angehörigen, die willens oder in der Lage sind, sich zu wehren. Oft genug gibt es gar keine Angehörigen, oder sie lassen sich nicht blicken. Und der Wille der Menschen, um die es eigentlich geht? Nach dem wird sehr selten gefragt. Werden Menschen viel zu früh aus dem Krankenhaus in die Pflege abgeschoben? Für mich ist die Antwort klar: Ja.

"Zwei Schlaganfallpatienten auf einem Zimmer sind eine Zumutung"

Man könne ein Reha-Vorbereitungsprogramm durchführen, sagt uns der Stationsarzt. Werden genügend Programmpunkte erfüllt, zahle die Kasse für einige Tage weiter, sagt der Arzt. Zudem sind wir Selbstzahler für ein Einbettzimmer, denn anfangs zwei Schlaganfallpatienten auf einem Zimmer sind einfach eine Zumutung für beide Betroffenen. Das Programm mit zu diesem Zeitpunkt bei ihr absolut sinnlosen Gymnastik- und Sprechversuchen erscheint als ein Witz, aber die Punktequote wird erfüllt. Wirklich helfen die Mitarbeiter des sozialen Dienstes im Krankenhaus bei der folgenden bürokratischen Odyssee.

Als Angehöriger hat man im Akutfall Anspruch darauf, für zehn Arbeitstage von seinem Arbeitgeber freigestellt zu werden. Macht jedoch kaum einer, ist meine Erfahrung nach vielen Gesprächen mit anderen in der gleichen Situation. Die meisten Betroffenen neben lieber Urlaub. Dabei kostet den Arbeitgeber die Freistellung erst einmal gar nichts. Das entfallende Nettogehalt übernimmt zu 90 Prozent die Pflegekasse, 2017 maximal 101,50 pro Tag. Die Bewilligung des sogenannten Pflegeunterstützungsgeldes funktioniert relativ unbürokratisch. „Was soll ich Ihnen denn schreiben“, hatte der Arzt im Krankenhaus gesagt, „ich hab das noch nie gemacht.“ Der Hausarzt auch nicht, wie sich später herausstellt.

Über jedes Krankenhaus gibt es schlimme Geschichten zu hören, da macht unseres kein Ausnahme. Kein Wunder, in Krankenhäusern wird gelitten und gestorben, Hoffnung zerstört. Unser Krankenhaus ist ein ganz normales Krankenhaus, um es klar vorwegzunehmen. Meine Mutter ist die einzige, die ständig von ihren Söhnen betreut wird und daneben noch viel Besuch bekommt. Das macht Eindruck. Andere Patienten auf der Station scheinen nie oder so gut wie nie Besuch zu bekommen. „Stimmt es, dass Sie bei der Zeitung sind?“, werde ich nach einigen Tagen gefragt, und ein mehr als nur respektvoller Unterton ist spürbar. Das hatte meine Mutter auf die harmlos gemeinte Frage, was ihre Söhne so machen, geantwortet. Nach drei Wochen sind alle froh, dass sie uns los sind. Christa Heidecke, verwirrt, halbseitig gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen, wird in eine Reha-Klinik an der Ruhr verlegt.

In der Reha-Klinik – am Wochenende füllt sich der Parkplatz mit Autos aus ganz NRW

Die Klinik könnte schöner kaum liegen, oberhalb der Ruhr auf dem Berg mit weitem Blick. Ältere Schlaganfallpatienten mit halbseitiger Lähmung und Verlust der Sprache, so wie unsere Mutter eben, sind hier nichts Besonderes. Die harten Fälle sind hirnverletzte Menschen, denen Teile des Kopfes fehlen. Einige sind bereits über ein Jahr hier. Die anrührenden Fälle sind die krebskranken Kinder, die in der Therapie ihre Haare verloren haben. Am Wochenende füllt sich der Parkplatz mit Autos aus ganz Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus.

Die schöne Aussicht von der Kuppe hat ihren Preis. Auf der Sonnenseite des ehemaligen Krankenhauses heizen sich die Räume besonders schnell auf. Das Zweibettzimmer unserer Mutter ist eine Zumutung für einen alten Menschen nach einem Schlaganfall, doch es gibt keine Alternative. Auf ihrem Flur in der ersten Etage liegen viele Langzeitpatienten. Besonders der ältere, bettlägerige Herr gegenüber ruft ständig um Hilfe, aber vom Personal kommt schon lange keiner mehr außer der Reihe bei ihm vorbei. Zu viel Personal gibt es in der privat geführten Klinik auf keinen Fall, so viel ist sicher.

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Die therapeutische Leistung zur Rehabilitation in der Reha-Klinik ist sehr bescheiden. Rehabilitation bedeutet im Wortsinne: Menschen wieder in ihr Zuhause bringen. Von einem solchen Ziel ist nichts zu spüren. Mobilisierung durch möglichst häufige Krankengymnastik wäre das A und O. Viele Angebote wie sportliche Betätigung sind für unsere gelähmte Mutter sinnlos. Auf dem Programm stehen sie trotzdem. Das Reha-Bad im Tiefparterre sehen wir nur von außen. Eine individuelle Ansprache wäre genauso wichtig. Eine persönliche Betreuung gibt es nur beim Essen der von ihren Lähmungen beeinträchtigten Patienten. Wie würdevoll der Umgang mit den hilflosen Menschen ist, hängt von den einzelnen Pflegekräften ab. Nicht alle würden eine Prüfung im Fach Empathie bestehen.

Viele Ärzte auf den Stationen kommen aus Osteuropa

Viele Ärzte auf den Stationen kommen aus dem Ausland, oft aus Osteuropa. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen. Doch nicht immer sind die Sprachkenntnisse ausreichend. Auch ich tue mich oft schwer, das übliche Ärztesprech in einem rudimentären Deutsch zu verstehen. Bestehen auf der Patientenseite Einschränkungen, kommt einfach keine sinnvolle Kommunikation mehr zustande.

Es geht in der Klinik bei Patienten wie meiner Mutter augenfällig vorrangig um effiziente Verwahrung. In den Rollstuhl gesetzt, werden die Immobilen an die Wand vor dem Fahrstuhl platziert. Da hat man sie durch die Glasfront aus dem abgeschlossenen Mitarbeiterraum heraus im Blick. Manche Patienten bitten in unbeobachteten Momenten Besucher, sie mit nach unten zu nehmen. Sie wollen einfach nur raus und der Tristesse entfliehen. Die Wände sind nackt, die Flure kahl wie Fluchttreppenhäuser. Man musste nach den neuesten Brandschutzvorrichtungen alles irgendwie Brennbare entfernen, berichten die Mitarbeiter, jeden Zettel an der Wand, jedes Bild, jeden Stuhl im Flur, jede Ablage. Ein trauriger Anblick.

Wir Brüder versuchen weiterhin, möglichst oft bei ihr zu sein, auch wenn die lange Fahrtzeit von Mülheim Richtung Hattingen alle belastet. Zwei von uns wollen jeden Tag abwechselnd da sein. Wir gehen so oft wie möglich mit ihr raus. Mutters erste Mitbewohnerin kommt aus Wesel, und sie ist anscheinend immer allein. Nie sieht man Besuch. Die so beherrscht wirkende Frau in den Siebzigern hat bei ihrem Schlaganfall komplett die Sprache verloren und weitgehend auch ihre Mimik. Derart hilflos versucht sie dennoch, sich verständlich zu machen. Auf meine Mutter wirkt sie in ihrer Starrheit bedrohlich. Sie ist in ihrer Mobilität kaum eingeschränkt, verläuft sich aber schnell und lässt ihren Rollator überall stehen, kann sich dann nicht mehr erinnern. Das Personal redet genervt über sie. Sie tut mir bald leid.

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"Wer sich als Pflegefall nicht mehr wehren kann, der wird zum Spielball"

Irgendwann ist die Frau aus Wesel weg. Einen Tag später passiert etwas eigentlich Unfassbares. Das Bett wird belegt mit einer in sich zusammengesunkenen älteren, besinnungslosen Frau, die pausenlos laut stöhnt. Den ganzen Tag, die ganze Nacht. Jedes Röcheln der bemitleidenswerten Frau klingt so, als könnte ihr Herz in diesem Moment stehen bleiben. Das hält niemand länger aus. Ich gehe sofort zum ärztlichen Leiter im abgetrennten Verwaltungstrakt und nötige ihn, sofort mit zu meiner Mutter zu kommen. Er argumentiert nicht, entschuldigt sich, lässt die Frau in ein Einzelzimmer verlegen. Es ist so, wie ich es bis dahin bereits mehrere Male erlebt habe und es immer wieder vorkommen wird. Wer sich als Pflegefall nicht mehr wehren kann und keine Unterstützung hat, der wird zum Spielball.

Eins läuft jedoch in der Klinik professionell. Ein bekanntes großes Sanitätshaus betreibt im Untergeschoss Büro und Werkstatt. Pflegebett, Rollstuhl, Rollator, WC-Sitzerhöhung gibt es hier aus einer Hand für alle, die es dem Sinn der Reha nach zurück ins Zuhause schaffen. Bett und Rollstuhl werden geleast, kein schlechtes Geschäft. 125 Euro als sogenannter Entlastungsbetrag stehen zum Verbrauch bereit, und Windeln in irgendeiner Form braucht der Pflegefall immer. Wer es hier als erster zum Belieferer schafft, hat gute Chancen auf eine langfristige Kundenbeziehung.

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Sinnvoll wäre bei vielen ein möglichst schneller Verzicht auf den üblichen Dauerkatheter. Sonst bleiben nach einigen Wochen die meisten alten Menschen ohne Training ihrer Schließmuskel für den Rest ihres Lebens inkontinent. Das interessiert aber in der Klinik niemanden. Entwöhnung vom Katheter würde Ärger, Arbeit und Dreck machen; und irgendwann sind sie ja alle wieder weg. Dass Inkontinenz auch für geistig eingeschränkte Menschen mit den schlimmsten Verlust ihrer Würde bedeutet, spielt keine Rolle. Die gefährlichsten Situationen werden in Zukunft dadurch entstehen, dass unsere Mutter immer wieder versuchen wird, aus Scham alleine zur Toilette zu gehen, und dies wird nicht immer gutgehen. Doch erst einmal ist es ein Freudentag: Am 2. August und lange zehn Wochen nach dem Schlaganfall geht es zurück nach Hause.

Mehr zum Blog "Plötzlich Schlaganfall"

Lesen Sie hier ab Montag, 27. Juli, die nächste Folge: Plötzlich Schlaganfall - wenn die Pflege zur Belastung wird.

Die Auftaktfolge können Sie hier nachlesen: