Essen. Zwei der fünf Tatverdächtigen von Mülheim sind erst zwölf Jahre alt. Der Fall sorgt für eine Debatte ums Alter für die Strafmündigkeit.

Zwei der fünf Tatverdächtigen von Mülheim sollen erst zwölf Jahre alt gewesen sein, die anderen drei 14. „Von Kindern erwarten viele keine Gefahr“, sagt die Opferschutzbeauftragte des Landes, Elisabeth Auchter-Mainz. „Wenn dann doch etwas passiert, ist die Erniedrigung der Opfer umso größer.“

Aber Zwölfjährige sind in Deutschland nicht einmal strafmündig. Sie dürfen nicht angeklagt, können nicht bestraft werden.

Nach mutmaßlicher Vergewaltigung in Mülheim – Unter 14 Jahren sind Jugendliche schuldunfähig

„Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist“, besagt § 19 des Strafgesetzbuches. Und der gelte „ohne jede Diskussion“, betont Anette Milk, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Essen.

Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren können für ihre Taten belangt werden, aber nur wenn sie „nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug sind“, das Unrecht der Tat einzusehen.

In anderen Ländern gelten andere Strafmündigkeitsgrenzen

Im internationalen Vergleich liege, so die leitende Oberstaatsanwältin Milk, die deutsche Grenze durchaus unter der anderer Länder. In Polen etwa sind erst über 17-Jährige strafmündig; Portugal, Tschechien und die Ukraine ziehen die Grenze bei 16, Saudi-Arabien bei 18 Jahren.

Andererseits bringt Großbritannien bereits Zehnjährige vor Gericht; und in Kuwait, Brunei, Nigeria oder Thailand gelten nur unter Siebenjährige noch nicht als strafmündig. „Tendenziell“, erklärt Anette Milk, „liegt die Grenze umso niedriger, je weniger weit ein Land entwickelt ist.“ Im Iran übrigens sind Jungen mit 15 strafmündig – und Mädchen mit neun.

Strafmündigkeit mit 14 Jahren wurde 1923 festgelegt

Elisabeth Auchter-Mainz, Opferschutzbeauftragte des Landes NRW.
Elisabeth Auchter-Mainz, Opferschutzbeauftragte des Landes NRW. © dpa | Federico Gambarini

Die Diskussion um eine Senkung der deutschen Strafmündigkeitsgrenze komme „immer mal wieder hoch“, erklärt die Landes-Opferschutzbeauftragte Elisabeth Auchter-Mainz. „Aber diese Grenze hat sich seit fast 100 Jahren bewährt, ich möchte nicht dran rütteln.“

Auch der Deutsche Richterbund hat sich gegen eine Absenkung des Alters für Strafmündigkeit bei Kindern ausgesprochen. „Die Gleichung mehr Strafrecht gleich weniger Kriminalität geht bei den Jugendlichen nicht auf“, teilte der Vorsitzende Jens Gnisa der Deutschen Presse-Agentur mit. Das Jugendstrafrecht habe sich im Grundsatz bewährt. „Es hat durch den darin niedergelegten Erziehungsauftrag zu einem deutlichen Rückgang der Jugendkriminalität geführt“, so Gnisa. Man sehe daher auch keine Notwendigkeit, das Alter für Strafmündigkeit von 14 auf zwölf Jahre herabzusetzen.

Das Alter von 14 Jahren für die Strafmündigkeit wurde 1923 im Jugendgerichtsgesetz festgelegt (und damals damit um zwei Jahre angehoben). „Wir fahren gut damit“, versichert Auchter-Mainz. „Und dass Täter unter 14 nicht angeklagt werden, heißt ja nicht, dass nichts passiert.“

Jugendgerichtshilfe: Junge Täter werden nicht einfach so nach Hause geschickt

Ingo Riesener von der Awo-Jugendgerichtshilfe in Essen.
Ingo Riesener von der Awo-Jugendgerichtshilfe in Essen. © FUNKE Foto Services | Ulrich von Born

Auch Ingo Riesener, verantwortlich für die Jugendgerichtshilfe bei der Essener Arbeiterwohlfahrt, betont, es sei unrichtig, dass junge Täter „einfach so nach Hause geschickt werden“, wie der Stammtisch gern propagiere.

Die Polizei sei nach einer Tat wie der in Mülheim „verpflichtet“, Eltern und Jugendamt zu informieren. „Welche Maßnahmen dann eingeleitet werden, hängt vom Einzelfall ab.“

Projekte sollen „Abwärtsspirale der Kriminalität“ verhindern

Denkbar seien ambulante Familienhilfen, Erziehungsberatung für die Eltern oder etwa eine Anbindung der Kinder an bestimmte Freizeiteinrichtungen, die ihnen eine Tagesstruktur schaffen könnten. Er selbst hat bis zum vergangenen Jahr beim Landes-Präventionsprojekt „Kurve kriegen“ mitgearbeitet, das bei jungen Tätern die berühmte „Abwärtsspirale der Kriminalität“ zu verhindern versucht. Es richtet sich explizit an 8- bis 13-Jährige.

Berichterstattung zur mutmaßlichen Vergewaltigung in Mülheim

Für die beiden zwölfjährigen Beschuldigten im Mülheimer Fall komme die Aufnahme ins Projekt infrage: „Und das wäre absolut sinnvoll. Das ist ein guter Ansatz mit guten Erfolgen.“ Sollten Eltern und Kind allerdings jede Hilfe verweigern, überhaupt keine Einsicht zeigen, werde in der Regel das Familiengericht eingeschaltet. Das könne dann die Inobhutnahme des Kindes veranlassen – es also an eine Pflegefamilie übergeben.

U-Haft und Gefängnisstrafen für Minderjährige sind möglich

Für über 14-Jährige kann ein Richter durchaus U-Haft anordnen. Sie dürfen auch angeklagt und gegebenenfalls zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. Nach der Gruppenvergewaltigung einer 13-Jährigen in Velbert im vergangenen Jahr erhielten die beiden 14 und 15 Jahre alten Haupttäter Haftstrafen von vier bzw. vier Jahren und neun Monaten.

„Aber jugendliche Täter einfach wegzusperren ist ganz sicher nicht der richtige Weg“, meint Riesener. Es widerspräche dem Grundgedanken des Jugendgerichtsgesetzes: nicht vorrangig zu strafen, sondern eher erzieherisch auf straffällige, aber unfertige Persönlichkeiten einzuwirken.

Statistik zeigt: Die Jugendkriminalität nimmt ab, nicht zu

Tatsächlich zeigt die Kriminalitätsstatistik, dass die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen in den letzten 20 Jahren deutlich zurückgegangen ist. 1999 wurden in NRW noch 33.200 unter 14-Jährige als Tatverdächtige registriert. Im vergangenen Jahr waren es 15.300. Bei den 14- bis 18-Jährigen waren es 1999 insgesamt 58.000 und 2018 „nur“ noch 42.000.

Selbst die Gewerkschaft der Polizei, die noch vor ein paar Jahren vehement die Senkung der Strafmündigkeitsgrenze forderte, rückte angesichts dieser Zahlen inzwischen wieder davon ab. Die „mediale Aufbereitung“, sagt Sozialarbeiter Riesener, lasse das Thema „schlimmer erscheinen als es ist“.