Essen. Mehr Straftaten, Kampf gegen Clans, Gefahren durch Extremisten: NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) redet im WAZ-Videotalk Klartext.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) kündigt an, bei der Suche nach geeigneten Bewerbern für den Polizeiberuf, neue Wege einzuschlagen. Es gebe zwar bis zu 12.000 Bewerberinnen und Bewerber im Jahr. „Aber ich kann keine Leute nehmen, die intellektuell nicht gut oder körperlich nicht fit sind oder in ihrer Haltung nicht passen. Ich brauche keine Leute, die bei der Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht mitspielen. Das ist ein mühsamer Auswahlprozess, und es wird noch mühsamer werden“, sagte er im WAZ-Videotalk „Ruhrgebiet, wir müssen reden!“ im Gespräch mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock.
Reul versprach, das Angebot an Realschülerinnen und -schüler, Polizist werden zu können, weiter auszubauen. „Da werden wir tolle Leute finden“, sagte er. „Zweitens werden wir Berufstätigen Wege in die Polizei öffnen. Es gibt immer Menschen, die schon im Beruf sind, aber immer schon Polizist werden wollten. Drei Jahre Studium mit minderem Gehalt macht zwar nicht jeder mit. Aber wir wollen Menschen, die Erfahrungen haben, die vielleicht Spezialisten sind als Bankkaufleute oder in der Kfz-Werkstatt oder in der Informationstechnologie.“
Studienabbrecher und Berufserfahrene für die Polizei
Der Innenminister interessiert sich in diesem Zusammenhang auch für Studienabbrecher: „Bei den Juristen gibt es zum Beispiel viele, die das Studium nicht durchhalten, aber vielleicht haben die eine Antenne für das Thema. Vielleicht wollten die Richter oder Staatsanwalt werden.“
Der Minister will sich in dieser Frage aber nicht unter Druck setzen lassen. Wenn sich am Ende statt der angestrebten 3000 Kandidaten im Jahr für die Polizei nur 2900 finden sollten, dann sei es eben so. „Oberster Maßstab ist Qualität, und die wird nicht gesenkt.“
Sicherheitspolitik ist aus Reuls Sicht grundsätzlich wichtig für das Funktionieren des Staates und das Vertrauen der Menschen in den Staat: „Wenn der Staat es nicht mehr schafft, dass Menschen sicher über die Straßen gehen, dann fangen sie an zu verzweifeln, und meine große Sorge ist, dass sie dann politisch in die falsche Ecke rutschen, nach Rechtsaußen. Die Entwicklung bei Pegida und Corona-Leugnern zeige, dass auf den Straßen eine Szene von Unzufriedenheit und Staatsablehnung entstehe. „Das ist brandgefährlich. Das hatten wir schon mal“, warnte der Minister.
Hier sind die wichtigsten Reul-Zitate aus dem WAZ-Videotalk:
Herbert Reul über Clan-Kriminalität:
„Wir sind einen Schritt weiter, vielleicht auch drei. Aber fertig sind wir noch lange nicht. Wenn sich 30 Jahre lang so etwas entwickelt hat und nichts passiert ist -- die Politik hat sich weggeduckt oder sich nicht getraut oder hat vermeintlich gute Gründe, warum sie es nicht anpacken wollte – dann kann man nicht erwarten, dass das von heute auf morgen verschwindet. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, das Leben ist hart, anstrengend und geht nur Schritt für Schritt. Aber wenn sie merken, dass man sich ehrlich bemüht, dann hat es auch eine Wirkung.“
Früher habe es in Essen jede Woche ein „Tumultdelikt“ gegeben, jetzt eines oder zwei im Jahr. „Es ändert sich was. Langsam, aber sicher wird es ruhiger, aber Ruhe auf der Straße heißt nicht, dass das Problem weg ist, denn die großen Geschäfte werden ja meistens dahinter gemacht.“
Der Vorwurf, er stigmatisiere unschuldige Menschen mit dem Begriff „Clan-Kriminalität“, beschäftigt Reul: Wenn ich sage, da gibt es Familien, denen wir viele dieser Straftaten zuordnen, dann stigmatisiere ich. Diese Gefahr besteht. Aber wenn ich es nicht tue, benenne ich das Problem nicht und kann nicht anfangen zu arbeiten. Wenn einer einen besseren Weg hat, dann soll er das sagen.“
Clan-Kriminalität bedeute nicht, dass jeder, der einer solchen Familie angehöre, ein Verbrecher sei. „Wenn aber 90 bis 95 Prozent der Straftaten einem bestimmten Kreis von Menschen zuzuordnen ist, dann muss man es auch sagen“, so Reul.
Herbert Reul über seinen Kabinettskollegen, NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne):
„Ich bin mittlerweile so alt, dass ich es mir abgewöhnt habe, anderen Menschen Ratschläge zu geben. Ich glaube aber, dass der Justizminister das Problem auch kennt. Das ist ja nicht ein Problem von Clans, sondern von Organisierter Kriminalität, die immer, wenn sie im Gefängnis sitzt, versucht, das Spiel weiterzuspielen. Ich möchte nicht in Limbachs Haut stecken. Das war immer schon so: Es gab nie genug Platz in den Gefängnissen, und es gab immer Kriminelle, die im Gefängnis ihr Spiel weiterspielen. Der Kollege Limbach kümmert sich darum, und ich bin optimistisch, dass er das sehr sorgfältig macht.“
Die Trennung zwischen einem schwarzen Innen- und einem grünen Justizminister sei im Regierungsalltag kein Problem. „Natürlich stoßen da zwei politische Ideen aufeinander. Aber ich bin vom Kollegen Limbach total überzeugt. Begeistert ist vielleicht übertreiben, aber es ist ein unheimlich kluger Mensch, der sich auskennt in der Justiz. Er ist kein Heißsporn, kein Ideologe, er ist einer, der pragmatisch vorgeht. Wir waren uns schnell einig: Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Menschen sicher leben können und dem Staat mehr vertrauen.“
Herbert Reul über die Gefahren durch Geldautomatensprenger:
Geldautomaten sind nach Einschätzung des Ministers eine Art Einladung an Verbrecher. „Wir haben wahnsinnig viele dieser Geräte – 11.000 in NRW. Die Niederländer haben viel weniger Automaten. Die Liebe zum Bargeld und die geschlossenen Filialen machen durch Geldautomaten Gelegenheiten für Diebe.“
Kein „vernünftiger“ Krimineller verübe heute noch Banküberfälle, weil das Risiko viel zu groß sei. Der Kampf gegen die Automatensprenger sei mehrdimensional und kompliziert. „Eine Dimension ist die Polizei, die zweite die Banken, die dritte die Technik, die vierte die Zusammenarbeit mit den Niederlanden“, erklärt Reul. „Es ist nicht einfach, aber wir kommen voran. Wir haben mittlerweile 17 Täter erwischt. Aber die sind mit einer Brutalität und Rücksichtslosigkeit unterwegs, gegen die man nur schwer ankommen kann.“
Mehrheitlich handele es sich um Täterbanden aus den Niederlanden, oft mit marokkanischem Hintergrund, aber auch um rumänische Banden, Einzeltäter und Trittbrettfahrer. Die Profis unter den Automatensprengern seien gut trainiert, riskierten auch ihr eigenes Leben und könnten mit ihren Sprengsätzen ganze Häuser sprengen.
Herbert Reul zur Frage, ob ihn nicht gerade angesichts der wieder ansteigenden Kriminalität die Wirklichkeit einhole:
„Als ich die Zahlen das erste Mal sah, dachte ich das auch. Man merkt aber die Auswirkungen von Corona. Taschendiebe hatten während der Pandemie relativ wenige Gelegenheiten. Beim Einbruchsdiebstahl war es ähnlich. Vielleicht hat auch der Anstieg bei der Kinder- und Jugendkriminalität viel damit zu tun, dass die jungen Menschen nicht mehr Korrektive hatten wie Sportunterricht, Verein, Schule, soziale Kontrolle. Das kann auch etwas mit Menschen machen.“
Die Kriminellen lassen sich laut Reul „auch immer etwas Neues einfallen“. Immer häufiger sei das Internet ein Tatort: „Raubüberfall geht im Netz viel schneller, viel billiger, viel rücksichtsloser und mit viel höherem Ertrag.“
Nach dem durch Minderjährige verursachten Tod einer Zwölfjährigen in Freudenberg warnt Reul vor schlimmen Entwicklungen in der Gesellschaft. Die Zunahme der Jugendgewalt habe wohl auch etwas mit der Corona-Pandemie zu tun und damit, dass viele Kinder ohne die Erfahrung, dass man sich an Regeln halten müsse, groß würden. „Dass man, wenn etwas nicht klappt, auch mal Unzufriedenheit erträgt, also Frustrationstoleranz hat, und nicht direkt zuschlägt.“
Und dann komme noch hinzu: „Wenn man im Internet diese Gewalttätigkeiten sieht und sie als normal und spielerisch erkennt - und in der Coronazeit haben viele nur vor dem Gerät gehockt - dann wette ich, dass es eine Wirkung hat. Deshalb kann man solche Kriminalität nicht nur mit Polizei bekämpfen. Da geht es um die Frage: Was leistet Schule? Was leistet das Elternhaus? Was tun wir in der Medienpädagogik? Lernen Kinder, mit dem Internet ordentlich umzugehen? Warum gibt es im Internet weniger Regeln?“
Herbert Reul zur Frage, ob der Katastrophenschutz heute besser auf Naturkatastrophen vorbereitet ist:
„Nein, überhaupt nicht, weil die Politik auch dieses Thema jahrzehntelang nicht ernst genommen hat. Plötzlich war die Flut bei ums um die Ecke, seitdem kümmern wir uns. Ich habe schon 2018 angefangen, über Sirenenaufbau nachzudenken. Damals haben viele Menschen, auch kluge, gesagt, der Reul hat einen Knall. Jetzt kaufen alle Sirenen.“
Reul kündigte eine Umstrukturierung der für den Katastrophenschutz zuständigen Abteilung im Innenministerium an. Benötigt würden mehr Spezialisten aus der Praxis wie zum Beispiel Feuerwehrleute. Modernisiert werden müssten auch die entsprechenden Gesetze, das aber brauche Zeit.
Herbert Reul über die Bedeutung von Ehrenamtlern:
„Ich habe mich nach der Flutkatastrophe geärgert, dass sich die Politik nur Gedanken gemacht hat, wer an was schuld ist. Wir hätten jeden Tag ein Fest für diese Helden ausrichten müssen. Das Danke sagen, Anerkennen, Unterstützen ist etwas sehr Wichtiges. Wir haben eine sensationelle Ehrenamtskultur in der Bundesrepublik, um die uns andere beneiden.“ Eine „Riesenbaustelle“ sei es, Ehrenamtler nicht unnötig mit Bürokratie zu überschütten. „Wie viele sind in der Pandemie losgegangen mit der Trompete und haben vorm Altenheim Musik gemacht! Wie viele haben ukrainische Kriegsflüchtlinge privat untergebracht! Und ich hatte gedacht, unsere Gesellschaft sei satt und müde.“
Reul über Gefahren durch in- und ausländische Extremisten und Cyber-Angreifer:
„Schutz ist möglich, aber nicht zu 100 Prozent. Die Herausforderungen werden immer größer. Man muss mit kleinen Maßnahmen anfangen: aufklären, informieren. Wenn jeder bei sich mit seinen Passwörtern anfängt, ist die Tür schon zugeschlossen. Weil das nicht gegen Profis reicht, brauchen wir Beratung und professionelle Hilfe. Da darf man auch den Handwerksmeister nicht allein lassen.“
Herbert Reul zu den Lehren aus Lützerath:
„Der Einsatz ist großartig gelungen. Während der Räumung von Lützerath ist fast nichts passiert. Den Stress hatten wir am letzten Tag, als demonstriert wurde. Es gelang den Linksextremisten, zu viele Leute mitzuziehen, am Ende blieben sie aber erfolglos. Was erzählt wurde über Gewalt von Polizisten und von Demonstranten, wird jetzt sorgfältig aufbereitet. Ich glaube, da wird nicht viel von übrigbleiben.“
Er stelle sich als Innenminister vor die Polizistinnen und Polizisten, weise aber auch auf mögliche Probleme hin, zum Beispiel im Zusammenhang mit rechten Chatgruppen unter Polizeibeamten oder mit Versäumnissen im Kampf gegen die Kinderpornografie. Reul: „Ein Polizist ist nicht mehr glaubwürdig, wenn er zulässt, dass in seiner Truppe auch nur einer ist, der sich nicht an die Regeln hält. Dann kann man nicht vom Bürger verlangen, dass er sich an Regeln hält.“
Herbert Reul zu den Lehren aus den tödlichen Polizeischüssen auf einen 16-Jährigen in Dortmund:
„Ich habe gelernt, wie schwierig solche Lagen für Polizisten sind. Und ich habe gelernt, dass Situationen, in denen psychisch auffällige Menschen unterwegs sind und Menschen, die die deutsche Sprache nicht kennen, eine besondere Herausforderung sind. Wir werden die Fortbildung der Polizei verändern. Wir verdoppeln die Zahl der Einsatz-Trainingstage, um den Umgang mit psychisch Auffälligen und Fremdsprachigen mehr zu üben.“
Herbert Reul über die Klebe-Aktionen der so genannten „Letzten Generation“:
„Das Anliegen der Kleber kann ich verstehen. Aber es gibt in der Demokratie genug Möglichkeiten, das zu artikulieren: Petitionen und Briefe schreiben, in die Politik gehen. Aber in dem Moment, in dem ich andere in ihrer Freiheit einschränke, ist Schluss mit lustig. Und wenn das jetzt auch noch generalstabsmäßig organisiert wird, muss man aufpassen, dass sich das nicht zu einer kriminellen Struktur entwickelt. Ich glaube, dass die Kleber dem Klimagedanken sehr geschadet haben. Die Idee einer Berlin-Blockade ist auch eine Anmaßung: Nur weil man ein eigenes Anliegen hat, alle anderen Menschen blockieren zu wollen. Das ist ein sehr intolerantes Selbstverständnis.“