Bochum. 480 Tatverdächtige unter 14 Jahren weist die Kriminalstatistik 2022 für Bochum aus – doppelt so viele wie noch 2013. Woher rührt der Anstieg?
- Zahl der tatverdächtigen Kinder ist in Bochum stark gestiegen
- 480 Unter-14-Jährige wurden 2022 als Tatverdächtige ermittelt – doppelt so viele wie noch 2013
- Auswirkungen der Corona-Maßnahmen als ein Erklärungsansatz
Sie sollten eigentlich toben, lernen, spielen – stattdessen kommen manche schon im Grundschulalter mit dem Gesetz in Konflikt: 480 tatverdächtige Kinder im Alter zwischen 8 und 13 Jahren weist die Polizeiliche Kriminalstatistik fürs Stadtgebiet Bochum fürs vergangene Jahr aus. Noch 2013 waren es 245 – halb so viele. Seitdem ist die Zahl fast kontinuierlich gewachsen. Der mutmaßlichen „Corona-Delle“ im Jahr 2021 folgte jüngst der steile Anstieg.
23 Prozent – nahezu ein Viertel – der Tatverdächtigen unter 21 Jahren seien jünger als 14 Jahre, berichtete Kripo-Chef Ralf Gromann bei der Vorstellung der Statistik. „Das ist eine Entwicklung, die so nicht nur im Polizeipräsidium Bochum, sondern landesweit festzustellen ist. Eine Entwicklung, die uns besorgt.“
Kriminalität in Bochum: 23 Kinder bei Raubdelikten tatverdächtig
144 Unter-14-Jährige fielen in Bochum bei Körperverletzungen auf, 23 bei Raubdelikten, 61 in Fällen von Sachbeschädigung: drei Schlaglichter aus der Statistik – aufgeschlüsselt nach Delikt-Arten sind die absoluten Zahlen überschaubar, prozentuale Veränderungen schnell groß. Womöglich, so ein Erklärungsansatz, hängt die höhere Zahl der tatverdächtigen Kinder auch mit einer erhöhten Anzeigebereitschaft zusammen. Bei Projekten wie „Kurve kriegen“ informiert die Polizei offensiv über ihre Präventionsarbeit mit jenen, die auf dem Weg zum Intensivtäter sind. Aufklärung schafft Aufmerksamkeit – was dazu führen kann, dass auch Taten angezeigt werden, bei denen die Täterinnen oder Täter noch nicht strafmündig sind.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) führt den auch landesweit drastischen Anstieg zumindest in Teilen auf Corona zurück. Erste Studien zeigten, „dass die Pandemie die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden von Kindern verringert und gleichzeitig das Risiko für psychische Auffälligkeiten erhöht“ habe, heißt es in einem Bericht des Ministers.
Kriminalität bei Kindern – Gründe in der Corona-Pandemie verankert?
Auch Bochums Kripo-Chef Ralf Gromann vermutet: „Gründe könnten in der Pandemie verankert sein“. Er habe dafür keinen wissenschaftlichen Beleg. Aber: „Geschlossene Schulen, keine Aktivitäten in Sportvereinen. Klassenfahrten und Kindergeburtstage sind ausgefallen. Durch fehlende Entwicklungsmöglichkeiten könnte sich eine Konfliktlösungskompetenz nicht ausgebildet haben oder abhandengekommen sein.“
„Gesellschaft verändert sich stetig“, sagt Petra Funke. „Ein kleiner Teil dieser Veränderung in den vergangenen zehn Jahren war Corona.“ Die Diplom-Pädagogin ist seit mehr als 20 Jahren Geschäftsführerin des St. Vinzenz e.V., einer großen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe in Bochum. St. Vinzenz bietet klassische stationäre Unterbringung für jene, deren Kindeswohl in der eigenen Familie gefährdet ist, aber auch ambulante Hilfen sowie Präventionsangebote.
Arbeit mit Kindern: Konfrontation als Beginn eines Kontakts
Sind zehn- oder 13-jährige Kinder heute anders als noch vor ein paar Jahren? „Nicht die Kinder!“, sagt Jan Hildebrand, stellvertretender St.-Vinzenz-Geschäftsführer. „Die ganze Gesellschaft drumherum ist anders.“ Der diplomierte Heilpädagoge setzt zu einem Plädoyer für die junge Generation an. Diese sei politisch wie lange nicht, habe einen Bildungsstand wie nie. Aber: „Welche Orte im öffentlichen Raum gibt’s denn für Kinder und Jugendliche in Bochum? Welche Wertschätzung bringen wir als Gesellschaft ihnen entgegen?“
Unter den Kindern, mit denen sie bei St. Vinzenz in Berührung kommen, sei „nicht mehr oder weniger Kriminalität als vorher“, sagt der 40-Jährige. Petra Funke ergänzt: „Wir setzen heute auf Individualität, müssen die Kinder aber dort abholen, wo sie sind.“ Niemand wolle mehr Schulklassen, die im Gleichschritt laufen, niemand den ohrfeigenden Lehrer zurück. Trotzdem müsse man Grenzen setzen. Generell habe sie den Eindruck, dass in der Gesellschaft Angst oder Hemmungen verbreitet seien, in die Konfrontation zu gehen. Konfrontation aber, das wissen sie bei St. Vinzenz aus ihrer täglichen Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen, ist der Anfang, um in Kontakt zu bleiben.