Düsseldorf. SPD-Spitzenkandidat Thomas Kutschaty ist kein Draufgänger. Unterschätzen darf man ihn aber nicht. Er hat sich den Weg nach oben freigekämpft.
Um zu verstehen, wer Thomas Kutschaty (53) ist, muss man erst wissen, wer er nicht ist: Der Essener ist keiner, der durch bloße Anwesenheit einen Raum füllt, einen Saal rockt oder ein Marktplatz-Publikum entzückt. Er ist kein „Alphamännchen“-Typ wie Markus Söder, Friedrich Merz, Sigmar Gabriel oder Gerhard Schröder. Er macht nicht auf dicke Hose. Thomas Kutschaty nähert sich den Wählerinnen und Wählern anders.
Im „Haus des Bürgers“ im ostwestfälischen Hiddenhausen wartet ein vorwiegend älteres Publikum auf den Spitzenkandidaten. Der Saal ist voll, die Luft etwas dünn, wer zu laut mit dem Nachbarn quatscht, fängt sich böse Blicke ein.
Kutschaty bringt sich auf Augenhöhe mit seinen Zuhörern
Die Damen und Herren wollen über ihren Wunsch nach bezahlbaren Wohnungen reden, vor allem aber sind sie neugierig auf Thomas Kutschaty, der Ministerpräsident werden möchte. Der Gast aus dem fernen Düsseldorfer Landtag holt zunächst nicht zur großen Rede aus. Er hört zu, was die Leute ihm sagen, wirkt fast scheu. Als er spricht, bemüht er Vokabeln wie „Kommunalisierungsgrad“ und „Grundsockelfinanzierung“, findet aber dann Sätze, die ihn mit seinen Zuhörern auf Augenhöhe bringen.
Zum Beispiel: „Sonne und Wind schreiben am Ende des Monats keine Rechnung.“ Oder: „Heimat ist mehr als dicke Bohnen mit Speck“. Das wirkt. Beschreibungen wie „nett“ und „versteht was“ sind zu hören. Kutschaty sammelt mit seiner Unaufgeregtheit Sympathiepunkte im bodenständigen Westfalen.
Im Straßenwahlkampf ist Kutschaty der Mahner
Es ist dennoch schwierig, Thomas Kutschaty zu charakterisieren. Gehört er zur „Abteilung Attacke“ oder zum „Team Vorsicht“? Ist er in der SPD eher links oder einer aus der Mitte? Für jede dieser Thesen gibt es Beispiele. Früher ärgerte er im Landtag Armin Laschet (CDU) mit brachialen Sprüchen wie „Sie irren durch die Asche ihrer verbrannten Ideen“.
Von dieser Härte ist im Straßenwahlkampf wenig zu sehen. Hier ist er ein Mahner: Eine Lehre aus der Pandemie: „Besser ein Klinikbett zu viel als eines zu wenig.“ Und: „Wir müssen die Gefahr eines Weltkriegs abwenden.“
Eisenbahnerfamilie aus kleinen Verhältnissen
Aus Kutschatys Umfeld wird kolportiert, der dreifache Familienvater habe sich lange dagegen gesträubt, Privates auf den Präsentierteller zu legen. Inzwischen lädt er sogar Fernsehleute ins Haus ein. Sieben Jahre lang machte Kutschaty in der Regierung von Hannelore Kraft einen unauffälligen Job als Justizminister. Aus dieser Zeit stammt die Bezeichnung „Regierungsnotar“. Dass in dem vermeintlichen Aktenfresser ein Mann mit Mut und Machtinstinkt steckt, hatte damals keiner auf dem Schirm.
Die Herkunft ist stets ein Schlüssel zum Verständnis, wer ein Mensch ist. „Ich komme aus Borbeck im Essener Norden und stamme aus einer Eisenbahnerfamilie“. So stellte sich Kutschaty im Februar neben SPD-Chef Lars Klingbeil im „Ratinger Hof“ vor, eine Kultstätte für Punks und Künstler in Düsseldorf. „Als ich geboren wurde, lebten meine Eltern im Haus Nr. 256“, erzählte er: Sozialer Wohnungsbau, Eisenbahnerwohnung.
„Meine Eltern mussten damals sogar heiraten, um die Wohnung zu bekommen. Dachgeschoss, kein Balkon, dafür Kohleofen. Ein Kinderzimmer gab es nicht. Man schlief bei den Eltern mit.“
Dann sei in der Siedlung im Haus Nr. 250 eine 3 ½ Zimmer-Wohnung freigeworden, 66 Quadratmeter mit Kinderzimmer. „Das war purer Luxus für mich. Da war ich sechs Jahre.“ Kutschaty lebt immer noch in dieser Gegend, zwei Kilometer entfernt von der 250.
Kutschatys Aufstieg erzählt eine ur-sozialdemokratische Geschichte
Seine Vita kann einem Sozialdemokraten im Ruhrgebiet zur Ehre gereichen, deshalb eignet sie sich für die Kampagne: Arbeiterwurzeln, der Erste in seiner Familie mit Abitur, Jurastudium, Anwalt, Minister, SPD-Bundesvize. Der Blaumann des Arbeiters steht ihm nicht. Kutschaty ist kein Malocher, er ist durch und durch Jurist, und wenn er redet, dann klingt die Heimat Ruhrgebiet dezent mit. Dann wird der Sport zu „Spoat“ und „Warten“ zu „Waaten“.
Kutschatys private Aufstiegsgeschichte aus der Willy-Brandt-Ära spiegelt sich in seiner ur-sozialdemokratischen Botschaft: „Nicht die Postleitzahl, sondern Fleiß und Talent sollen über Bildungschancen von Kindern entscheiden.“
Als linker SPD-„Rebell“ nervte er einst Bundespartei
In diesem äußerlich ruhigen, zur (Selbst-)Ironie neigenden Zuhörer steckt allerdings auch ein Raufbold. Kutschaty stieg gegen erhebliche Widerstände zum Fraktionschef, NRW-SPD-Vorsitzenden und Spitzenkandidaten auf. Die alte NRW-SPD-Parteielite wollte ihn 2017 partout nicht in Führungspositionen. Kutschaty rang seine Konkurrenz nieder, zuletzt den braven Ex-NRW-SPD-Chef Sebastian Hartmann, denn der stand seinen Ambitionen im Weg.
Als linker SPD-„Rebell“ nervte er einst Bundespartei, Bundestagsfraktion und besonders die frühere SPD-Chefin Andrea Nahles. Die Große Koalition im Bund mit der CDU war ihm ein Graus. Längst sind Kutschatys Rufe nach dem Bruch mit Gerhard Schröders Agenda-Politik Allgemeingut innerhalb der SPD.
Mit Olaf Scholz, einem Hauptdarsteller der ungeliebten GroKo, bildet Kutschaty heute eine Schicksalsgemeinschaft: Auf den Plakaten gehen sie gemeinsam in diese Wahl.
>>> AUS DEM DUELL AN DIE SPITZE
Wer nach Spitzenämtern strebe, müsse „das Zeug und den Willen“ dazu haben. Das sagt ein kraftstrotzender Thomas Kutschaty im April 2018 auf die Frage, ob er sich eine Spitzenkandidatur gegen Armin Laschet vorstellen könne.
Kurz zuvor hat er etwas geschafft, was die frühere Parteielite um den langjährigen SPD-Landtagsfraktionschef Norbert Römer unbedingt verhindern wollte: Kutschaty lässt sich in einer Kampfkandidatur gegen Marc Herter zum Fraktionschef wählen. Sein Vorsprung ist vier Stimmen dünn. An diesem Tag macht Kutschaty den ersten Schritt auf seinem Weg zur Nummer 1 in der NRW-SPD. Und zieht den Schlussstrich unter die Ära Kraft/Römer.
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