Düsseldorf. Für nur zwei Wochen schickt NRW die Grundschüler zurück in ihre Klassen. “Jeder Tag zählt“, findet Schulministerin Gebauer. Lehrer sind entsetzt.
Darauf hätten nicht mehr viele gewettet: NRW wagt den kompletten Neustart an den Grundschulen noch vor den Sommerferien. Nur knapp zwei Wochen Unterricht sind nach der Öffnung am 15. Juni möglich. Lohnt sich das überhaupt? „Jeder Tag zählt“, sagte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP).
Was ist geplant?
Die Landesregierung möchte allen Kindern und Jugendlichen wieder regulären Unterricht im neuen Schuljahr ermöglichen. In einem „ersten Schritt“ öffnet NRW jetzt sogar kurzfristig die Grundschulen, und zwar „täglich im Regelbetrieb“. Das heißt, alle Klassen treffen sich ab Montag, 15. Juni, wieder so wie vor der Corona-Zwangspause. Das Abstandsgebot fällt, daher müssen Klassen nicht geteilt werden. Die Abstandsregeln werden durch „konstante Lerngruppen“ ersetzt, die den Infektionsschutz gewährleisten sollen: fester Klassenverband, laufende Dokumentation der Anwesenheit von Kindern, gestaffelte Anfangs- und Pausenzeiten.
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Ist das nicht gefährlich?
Die Landesregierung glaubt, dass die Öffnung verantwortbar sei. Der Präsenzunterricht sei „gerade für Grundschüler“ pädagogisch wichtig. Außerdem würden damit die Eltern, die „enorme Herausforderungen meistern müssen“, entlastet. Es gebe deutliche Empfehlungen von Kinderärzten und medizinischen Fachgesellschaften, „die sich für eine zügige und möglichst vollständige Öffnung von Kitas und Grundschulen aussprechen“, so das Schulministerium. Eine Maskenpflicht im Unterricht ist nicht gepant.
Öffnet NRW die Grundschulen im Alleingang?
Nein, es gibt andere Länder, die dies planen oder schon anbieten, zum Beispiel Sachsen, Sachsen-Anhalt, Bremen, Baden-Württemberg, Thüringen und Schleswig-Holstein. Die Unterrichtszeit bis zu den Ferien ist aber in NRW mit nur zwei Wochen besonders kurz. In Baden-Württemberg werden es vier Wochen sein, in Schleswig-Holstein immerhin drei.
Müssen alle Grundschulkinder in die Schule?
Nein. Kinder mit Vorerkrankungen oder Kinder, die in einem Haushalt mit gesundheitlich gefährdeten Menschen leben, „können vom Unterricht befreit werden“, so die Ministerin.
Was ist mit dem Offenen Ganztag?
Der Offene Ganztag (OGS) startet parallel zum Unterrichtsbeginn in Grundschulen. Das gilt auch für die Übermittagsbetreuung. Die schulische Notbetreuung endet dann.
Wie regieren Schulleitungen?
Mit Erstaunen. Bis zu den Ferien sei keine Schul-Normalität mehr möglich. Die Öffnung bedeute riesigen Stress für die Schulen, sagte Harald Willert, Chef der Schulleitungsvereinigung NRW. Die Leitungen arbeiteten schon seit Ostern „ständig am Limit“.
Was sagen die Lehrerverbände?
Als „Spiel mit dem Feuer“ bezeichnete der Verband Bildung und Erziehung (VBE) die Öffnung der Grundschulen. Die Gesundheitsrisiken seien weiterhin hoch. Zudem bringe die kurzfristige Umplanung erneut „Unruhe und Unsicherheit“ in die Schulen, so Stefan Behlau, VBE-Vorsitzender in NRW. Für wenige Tage die hart erarbeiteten Pläne erneut umzuschmeißen, stehe in keinem Verhältnis zum Nutzen. „Die ganze Kraft der Schulen muss nun darauf verwendet werden, das neue Schuljahr zu planen. Die Schulleitungen und Lehrkräfte verzweifeln an ihrer Dienstherrin und dem Ministerium“, so Behlau weiter.
Ähnlich argumentiert die Bildungsgewerkschaft GEW. „Die Vorgaben gaukeln vor, sicheren Schulbetrieb zu ermöglichen. Das ist schlechte Politik zu Lasten der Beschäftigten“, sagte Maike Finnern, GEW-Vorsitzende in NRW. Die Gefährdung der Gesundheit sei ein zu hoher Preis für einige Tage Schulunterricht. „Schulministerin Gebauer will offenbar unbedingt Handlungsfähigkeit demonstrieren.“
Was sagen die Grundschullehrer?
Viele Kollegen seien von der Entscheidung völlig überrascht worden, sagt Maxi Brautmeier-Ulrich, Vorstandsmitglied des Verbands und Grundschulleiterin in Paderborn. Einerseits sei es gut, dass Kinder, Eltern und Schüler wieder ein wenig Normalität erleben könnten. Auf der anderen Seite müssten nun viele Schulen ihre Konzepte erneut umwerfen. „Wir werden in den zwei Wochen keinen Unterricht nach dem vor Corona gültigen Stundenplan durchführen können“, sagt Brautmeier-Ulrich.
Der Grundschulverband äußerte auch Verständnis für die Ministerin. Der Druck von Elternverbänden und anderen Bundesländern sei sicher hoch. „Aber dass die Ministerin erneut zuerst die Presse informiert hat und dann erst die Schulen zeigt, dass sie nicht versteht, wie die Kommunikation mit den Schulen sein müsste“, so Brautmeier-Ulrich.
Was sagen die Eltern?
Die Landeselternschaft der Grundschulen in NRW begrüßt hingegen den Schulstart am 15. Juni. „Wir schätzen es sehr, dass Schulleitungen, Lehrkräfte und OGS-Personal den organisatorischen Aufwand auch für die kurze Zeit von zwei Wochen im Sinne unserer Kinder stemmen“, heißt es in einer Stellungnahme. Schon zuvor hatten die Eltern wegen der „Not der Kinder und Familien“ eine Öffnung vor den Sommerferien gefordert. Die Eltern appellierten erneut an die Ministerin, rasch ein Konzept für die Ferienbetreuung und den Unterricht nach den Sommerferien vorzulegen.
Wie reagiert die Opposition?
"Die Schulministerin wird immer mehr zur Belastung für die Schulen", sagte Sigrid Beer, bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag. So richtig es sei, möglichst vielen Kindern wieder Zugang zu Präsenzunterricht zu ermöglichen, so unverantwortlich sei die pauschale Ankündigung eines Normalbetriebs. Warnungen von zahlreichen Lehrer-, Eltern- und Schülerverbänden, mit einer vorzeitigen kompletten Öffnung von Schulen für erneute Unruhe an den Schulen zu sorgen, würden "einfach in den Wind geschlagen".