Essen. . Die soziale Ungleichheit wird sich auch in Deutschland verschärfen. Vor dieser Gewissheit wird ein alter Streit wiederbelebt: Kann der Einzelne durch Leistung den Aufstieg schaffen oder muss der Staat helfend eingreifen? Zwei Wege führen angeblich zur Gerechtigkeit: ein liberaler und ein sozialer.

Drei Kinder streiten um eine Flöte. Anna will sie haben, weil nur sie darauf spielen kann. Bob, weil er sonst kein Spielzeug besitzt. Und Carla hat sie mühsam geschnitzt. Wer soll die Flöte bekommen? Was wäre gerecht? Das Beispiel stammt von dem indischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen. Was er damit sagen will: Es gibt kein Ideal von Gerechtigkeit, die Gesellschaft muss entscheiden, was sie für gerecht hält. Welche Begründung akzeptiert wird, ist demnach eine politische, keine philosophische Entscheidung.

Klarer wird das, wenn man für die Flöte gute Schulbildung einsetzt oder überhaupt Aufstiegschancen. Wer nicht die Möglichkeit bekommt, ein Instrument zu spielen, kann nie Meister werden. Armut ist für Sen nicht allein eine Frage des Einkommens, sondern der Entfaltungsmöglichkeiten, die eine Gesellschaft dem Einzelnen gewährt.

Soziologen sind sich weitgehend einig, dass sich die soziale Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten verschärft hat. Und sie sehen viele Gründe, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird: Die Anforderungen an Berufseinsteiger wachsen, der technische Fortschritt erfordert hohe Qualifikationen, die Konkurrenz steigt durch die Globalisierung der Arbeits- und Finanzmärkte. All dies werde dafür sorgen, dass die Einkommensschere sich weiter spreizt. Staatliche Regelungen werden zwar die wachsende Ungleichheit auszugleichen versuchen, aber den Trend nicht umkehren können.

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Wie schafft es eine Gesellschaft vor diesem Hintergrund, dass jeder – um im Bild zu bleiben – eine eigene Flöte bekommt? Grob eingeteilt gibt es dafür zwei Denkrichtungen: die liberale und die sozialdemokratische oder sozialistische.

„Es gibt keine gerechte Gesellschaft“

Klassische Liberale sind der Ansicht, dass die soziale Spaltung ein Ansporn ist, für seinen Aufstieg selbst zu sorgen. Sie erwarten mehr individuelle Motivation, was am Ende allen Vorteile bringe. Aus der Ungleichheit und dem Willen, sie zu beseitigen entspringe die Dynamik einer Gesellschaft, ihr Erfindergeist und Fortschrittswille. „Bequeme“ Gesellschaften können sich den sozialen Frieden irgendwann nicht mehr leisten, weil sich keiner mehr für sein Fortkommen anstrenge.

Der Berliner Philosoph und Medienwissenschaftler Norbert Bolz bringt es auf den Punkt: „Die größte Gefahr für die moderne Welt geht nicht von denen aus, die asozial sind, sondern von denen, die zu sozial sind. Es gibt keine gerechte Gesellschaft“ schreibt er im „Diskurs über die Ungleichheit“. Ihm ist jeder staatliche Eingriff suspekt, der Staat soll sich darauf beschränken, das Eigentum der Bürger zu schützen und die Ordnung zu gewährleisten. Alles andere sollte dem gesellschaftlichen Wettbewerb überlassen werden. Bolz: „Die Erfolgreichen bilden die Avantgarde des Konsums. Es ist gerade die Ungleichheit, die die anderen antreibt, es ihnen gleichzutun. So breiten sich die guten Dinge des Lebens allmählich von oben nach unten aus.“

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Sozialistisch oder sozialdemokratisch Gesinnte – aber auch viele christlich geprägte Konservative – sehen in der Ungleichheit hingegen eine Bedrohung, die den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährde und Politikverdrossenheit befördere. Durch Chancengleichheit, bessere Aufstiegsmöglichkeiten, durchlässige Bildung und angemessene Transferleistungen müsse die soziale Kluft verringert werden.

Eliten im Paralleluniversum

Sie zu überspringen, wird indes immer schwieriger. Die Eliten schotten sich gegen die unteren Schichten ab und rekrutieren ihren Nachwuchs weitgehend aus dem eigenen Milieu, ergaben Studien des Darmstädter Soziologen Michael Hartmann. Je herausgehobener die eigene soziale Position ist, desto mehr herrscht die Ansicht vor, dass es sozial gerecht zugehe in Deutschland. Wer „unten“ lebt, sieht das genau umgekehrt.

Das Leistungsprinzip, wonach aufsteigen kann, wer sich nur genügend anstrenge, habe die Elite einseitig aufgekündigt. Hartz IV wurde dem Volk mit dem Begriffspaar „Fordern und Fördern“ erklärt. Zugleich aber kämen Spitzenverdienste kaum noch als Ergebnis persönlicher Leistung zustande. „Da entwickelt sich oben ebenso wie unten ein Paralleluniversum“, sagt Michael Hartmann.

Der Staat habe daher die Pflicht, regulierend einzugreifen, etwa durch höhere Abgaben für Spitzengehälter, durch Mindestlöhne, Anhebung der Erbschaftssteuer und Abschaffung der steuerlichen Bevorteilung von Kapitalerträgen gegenüber Arbeitseinkommen. „Damit wäre schon einiges gewonnen“, sagt Hartmann. Mit anderen Worten: Jeder hat ein Anrecht auf eine Flöte.