Washington. . Thomas Pikettys 700-Seiten-Buch ist in den USA ein Bestseller und setzt den Kapitalismus unter Legitimationszwang. Der Wirtschaftswissenschaftler belegt: Während die Clique der Superreichen immer mehr Macht und Einfluss auf sich vereinigt, geht der große Rest – inklusive Mittelschicht – leer aus.
Als der Bildhauer Frédéric Auguste Bartholdi Ende des 19. Jahrhunderts die 46 Meter hohe Freiheitsstatue entwarf, dachte man in Washington, es wird nie ein größeres Geschenk geben, das Frankreich den Vereinigten Staaten machen könnte. Damals wusste man noch nichts von Thomas Piketty. Sein 700-Seiten-Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, eine faktengesättigte, historisch abgesicherte Erzählung über die Irrtümer der herrschenden Wirtschaftslehre, ist ausgerechnet im Mutterland des Kapitalismus‘ Gesprächsthema Nr. 1.
Pikettys Kern-These klingt so, als habe man sie schon hundertmal gehört; nicht zuletzt bei Karl Marx: Der Arbeiter kann sich abrackern wie er will, das Kapital ist immer schneller. Während die Clique der Superreichen immer mehr Macht und Einfluss auf sich vereinigt, geht der große Rest – inklusive Mittelschicht – leer aus. Sagt auch die Linkspartei. Und der Arbeitnehmer-Flügel der SPD sowieso.
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Was neu ist: Der an der École d’économie in Paris lehrende Forscher hat anhand von bestechendem Datenmaterial den Nachweis erbracht, dass Reichtum über Jahrhunderte stets in einigen wenigen bereits vorher auf Rosen gebetteten Familien Speck ansetzt. Und somit ökonomische Ungleichheit über Generationen vererbt wird. Danach wäre das uramerikanische Aufstiegsversprechen, wonach jeder vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann, nur eine Worthülse. Wer diese massive Verteilungsschieflage ins Lot bringen will, so Piketty, muss Spitzeneinkommen drastisch höher besteuern.
So viel Lob für ein Wirtschafts-Buch gab es lange nicht
Binnen weniger Wochen klettert das trotz des harten Tobaks vergleichsweise leicht konsumierbare Werk auf Platz 1 sämtlicher Bestsellerlisten. Auch dank kluger Verweise auf Literaten wie Balzac und Jane Austen, was das Buch auch für Nichtökonomen zum Gewinn macht. Bei Amazon ist es ausverkauft. Die landesweite Händler-Kette „Barnes & Nobles“ führt ellenlange Wartelisten. In der führenden Washingtoner Buchhandlung „politics & prose“ wurden schon Kundengespräche an der Kasse mitgehört, die dezente Belohnungen wie ein „Abendessen beim Italiener“ zum Inhalt hatten, „wenn Sie mir bitte, bitte, irgendwoher ein Exemplar besorgen könnten“. Antwort: „Sorry, keine Chance.“
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Dass Angebot und Nachfrage, ganz gegen die kapitalistische Grundtheorie, nicht von selbst in Einklang kommen, liegt an der beispiellos pompösen Begleitmusik, die der 43-Jährige für seine Arbeit zu hören bekommt. Der sonst für Abgeklärtheit bekannte britische „Economist“ vermutet, Piketty könne die Wirtschaftslehre der vergangenen 200 Jahre revolutionieren. Nobelpreisträger Paul Krugman geht davon aus, dass dieses „bahnbrechende Meisterwerk“ die Art und Weise verändern wird, „wie wir über Wohlstand und Armut denken. Im „Esquire“ war schlicht vom „wichtigsten Buch des 21. Jahrhunderts“ zu lesen. Kritiker werden dagegen bisher kaum gehört.
Hedgefonds-Oligarch verdient 3,5 Milliarden Dollar – im Jahr
In der amerikanischen Hauptstadt wurde der zurückhaltende Franzose herumgereicht „wie der Messias“, schreibt der Wirtschaftsdienst Bloomberg. Finanzminister Jacob Lew, der Internationale Währungsfonds und diverse Denkfabriken gaben dem dunkelhaarigen Wissenschaftler bereitwillig ein Forum für Thesen, die in den USA auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Seit Amtsantritt 2009 wettert Präsident Barack Obama gegen die „wachsende Einkommensungleichheit“, verbunden mit der Forderung nach signifikant höheren Steuern für Reiche. Die inzwischen öffentlich verdorrte Occupy-Wall Street-Bewegung schlug in die gleiche Kerbe. Vorwurf: 95 Prozent der Wohlstandsgewinne der vergangenen fünf Jahre, die von einem stetigen Wirtschaftsaufschwung gekennzeichnet waren, landeten auf der Spitze der Einkommenspyramide - bei den Superreichen.
Die von Piketty vorgeschlagene Remedur - eine international abgestimmte, progressive Besteuerung großer Vermögen - gilt zwar als utopisch. Dennoch liefert die Wirklichkeit Belege für seine These, dass am freien Markt der Kräfte etwas komplett aus dem Ruder läuft. Danach hat der Hedgefonds-Oligarch David Tepper, Chef von Appaloosa Management, es auf ein privates Jahreseinkommen von 3,5 Milliarden Dollar gebracht. Kein Tippfehler: Milliarden, nicht Millionen.
Thomas Piketty, Jahrgang 1971, ist seit 2007 Professor an der Paris School of Economics. Er hat in London und Paris studiert und hatte zwei Jahre lang am Massachusetts Institute of Technology
(MIT) in Boston einen Lehrauftrag.
Der Franzose, der sich locker und uneitel gibt bei öffentlichen Auftritten, hat drei Kinder. Seine Eltern sind politisch in der 68er-Zeit sozialisiert. Heute leben sie zurückgezogen als Ziegenzüchter in Südfrankreich.
Deutsche Leser müssen sich allerdings noch gedulden. Der Verlag C.H. Beck will das Buch erst 2015 ins Programm aufnehmen.