Essen. Auch wenn Deutschland aus „neoliberaler Sicht“ erfolgreich sei: Armutsforscher Christoph Butterwegge teilt Deutschland in Gewinner- und Verliererregionen. Seine provokante These: Armut ist für ihn „gewollt“. Und das Ruhrgebiet gehört für ihn klar zu den Verliererregionen.

Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über 36 Prozent des Nettogesamtvermögens, das Empfinden von sozialer Ungleichheit wächst. Für Armutsforscher Christoph Butterwegge ist Armut eine gewollte Disziplinierungsmaßnahme. Ein Gespräch über die deutsche Wirtschaft, das Ruhrgebiet und die Agenda 2010.

Nie zuvor wurde im reichen Deutschland derart breit über Armut debattiert wie zurzeit. Woran liegt das?

Christoph Butterwege: Früher war „Armut“ höchstens in der Vorweihnachtszeit ein Thema. Heute gibt es ein Empfinden, dass die soziale Ungleichheit wächst und die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zunimmt. Und es stimmt ja auch: Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt 36 Prozent des Nettogesamtvermögens. Beim reichsten Promille sind es noch 23 Prozent. Über 40 Millionen Menschen in unserem Land aber haben praktisch keine Rücklagen und sind deshalb nur eine Kündigung oder eine Krankheit von der Armut entfernt.

Für Sie ist Armut also ein Strukturproblem, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht?

Butterwegge: Meine provokative These lautet: Armut fällt nicht vom Himmel, sondern ist gewollt und eine Disziplinierungsmaßnahme nach dem Motto: „Wenn du nicht funktionierst, landest du im Extremfall unter der Brücke.“ Das ist ein Spiel mit dem Feuer.

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Eine gewagte Theorie, wo uns doch die ganze Welt für unser Sozialsystem bewundert. Die deutsche Wirtschaft glänzt. Die Arbeitslosigkeit ist im europäischen Vergleich niedrig. Läuft wirklich so vieles falsch?

Butterwegge: Ich leugne ja nicht, dass Deutschland als „Wirtschaftsstandort“ im neoliberalen Sinne sehr erfolgreich ist. Den Preis für die deutschen Exporterfolge zahlen andere, zum Beispiel die Länder in Südeuropa. Außerdem verstellt der Exporterfolg den Blick auf den vernachlässigten Binnenmarkt.

Dem aktuellen Jubel über die Erfolge der Agenda 2010 können Sie nichts abgewinnen?

Butterwegge: Die Schröder’sche Agenda und die Hartz-IV-Gesetze der rot-grünen Koalition haben die Spaltung unserer Gesellschaft vertieft. Zwar ist die Zahl der Arbeitslosen seither erheblich zurückgegangen. Viele Unbeschäftigte werden aber in der Statistik versteckt. Und dass Deutschland aus der Finanzkrise 2008/2009 so glimpflich davongekommen ist, liegt nicht an der Agenda 2010, sondern an dem immer noch verhältnismäßig guten Kündigungsschutz und von der Großen Koalition verabschiedeten Maßnahmen wie der Verlängerung der Bezugszeit des Kurzarbeitergeldes und den zwei Konjunkturpaketen.

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Sie kommen aus Dortmund und kennen das Revier gut. Gehört das Ruhrgebiet zu den Verliererregionen in Deutschland?

Butterwegge: Ja, das würde ich sagen. Die regionale Zerrissenheit im Land verfestigt sich. Regionen wie das Ruhrgebiet, aber auch manche Gebiete in Ostdeutschland werden mehr und mehr abgehängt. In München, in Stuttgart und im Rhein-Main-Raum boomt es dagegen. Von der im Grundgesetz verankerten Forderung nach Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland sind wir jedenfalls weit entfernt.

Dabei sind doch Unsummen an Fördermitteln ins Revier geflossen. Der Strukturwandel an der Ruhr gilt als beispielhaft.

Butterwegge: Man kann darüber streiten, ob die Zahlung von Bergbausubventionen eine richtige Strategie war. Die hohe Arbeitslosigkeit in den Städten des Ruhrgebietes spricht jedenfalls Bände. Es gibt einen sehr hohen Sockel an Langzeitarbeitslosen, und keine Kommune bekommt die sozialen Probleme in den Griff. Das Problem ist: Gefördert wurden vor allem die Besserqualifizierten. Man hätte sich aber viel mehr um gering Qualifizierte kümmern müssen.

Wie also kann man das Wohlstandsgefälle bekämpfen?

Butterwegge: Nötig ist eine andere Steuerpolitik. Warum kann jemand mit einem Jahreseinkommen von 600 000 Euro und mehr nicht für die Summe darüber 60 oder 65 Prozent Einkommensteuer bezahlen?