Essen. . Soziale Ungleichheit ist nicht nur ungerecht. Sie schadet auch der Wirtschaft, meint Sigmar Gabriel, SPD-Parteichef, Wirtschaftsminister und Vize-Kanzler. In seinem Beitrag kritisiert er die wachsende soziale Spaltung in Deutschland. Sein Fazit: „Gerechte Gesellschaften sind besser für alle“
Die Kosten der Ungleichheit sind ein Top-Thema geworden. Nachdem lange Zeit ausschließlich gefragt wurde, wie teuer der Sozialstaat ist, rückt ein zunehmend brennendes Problem immer mehr in den Fokus: Was kostet uns eigentlich die soziale Spaltung? Wie teuer kommt es eine Gesellschaft zu stehen, wenn der Graben zwischen Unten und Oben immer tiefer wird und die Mittelschicht unter Druck gerät?
Mit Kate Pickett und Richard Wilkinson haben zwei Gesundheitsforscher den Ökonomen eine ganz neue Rechnung präsentiert: Wo die soziale Ungleichheit groß ist, nehmen nicht nur Armutskrankheiten zu, es wachsen auch Drogenkonsum, Kriminalität und Gewalt. Mehr noch, die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung destabilisiert das Wirtschafts- und Finanzsystem.
Leistung statt Herkunft
Christine Lagarde fasst die Forschungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) in dem Satz zusammen: „Ungleichheit erschwert nachhaltiges Wachstum.“ Joseph Stiglitz hat vorgerechnet, dass private Verschuldung auf der einen und Bereicherung auf der anderen Seite Spekulationsblasen anheizt und zur Ursache der Finanzmarktkrise zählt, für die der Steuerzahler bekanntlich Milliarden von Euro zahlen musste. Wir können uns die Ungleichheit schlicht nicht leisten!
Gerechte Gesellschaften sind besser für alle. Diese Einsicht setzt sich durch. Und dabei geht es nicht nur um Sozialpolitik. Es geht um unser wirtschaftliches Interesse an einer Gesellschaft, die offene Lebenswege garantiert und in der Leistung, nicht Herkunft über Erfolg und Aufstieg entscheidet.
Vererbte Privilegien
Eine Gesellschaft der vererbten Privilegien, in der die Armen arm bleiben und die Reichen reicher werden, ist nicht nur ungerecht, sie ist eine schlechte Ökonomie. Denn wo Bildung und Arbeit als einzige Mittel einfacher Leute, zu Wohlstand zu kommen, sich nicht mehr lohnen, da werden die innovativen Kräfte systematisch entmutigt. Wo Einkommen aus Arbeit stagnieren oder sogar rückläufig sind, Kapital aber hohe Renditen erzielt, da lahmt die realwirtschaftliche Nachfrage und es blüht die Spekulation. Wo schließlich das Steuer- und Abgabensystem auf Arbeitseinkünfte härter zugreift als auf Kapitalerträge, wird unproduktive Ungleichheit noch gefördert.
Die OECD hat in ihrem Deutschlandbericht vieles gelobt – niedrige Arbeitslosigkeit, starke Industrie –, aber eines kritisiert: die mangelnde soziale Durchlässigkeit. Sie rät uns zu einem „sozial inklusiven Wachstum“, und wir sollten genau hinhören, denn es geht um einen deutschen Klassiker. „Wohlstand für alle“, Soziale Marktwirtschaft heute, das muss wieder zu unserem wirtschaftlichen Leitbild werden.
Mindestlohn für vier Millionen Menschen
Es geht um 40 Millionen Beschäftigte, um die arbeitende Mitte unserer Gesellschaft, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch um Handwerk und Mittelstand, um viele kleine Selbstständige, die sich unglaublich reinhängen, um voranzukommen. Wir brauchen den Mindestlohn für rund vier Millionen Menschen, die trotz Anstrengung viel zu geringe Löhne erzielen. Aber wir brauchen auch stabile Tarifverträge und produktivitätsorientierte Lohnzuwächse für die breite Mehrheit der Beschäftigten. Arbeit muss sich lohnen.
Dazu gehört auch ein faires Steuersystem, in dem sich der Staat nicht zum heimlichen Profiteur der „kalten Progression“ macht, in dem aber auch die Besteuerung von Kapital nicht privilegiert wird. Es stimmt ja, dass die nationale Abgeltungssteuer ihre Begründung verliert, wenn wir international im Kampf gegen Steuerdumping, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Fortschritte machen.
Die Europawahl hat in dieser Auseinandersetzung eine große Bedeutung. Wenn wir fairen Wettbewerb wollen, dann müssen wir ohne Toleranz gegen Finanzkriminalität, aber härter auch gegen die so genannte legale „Steuergestaltung“ vorgehen, mit der sich reiche Leute arm rechnen, um der Besteuerung ihrer Gewinne zu entgehen. Zu den reichsten Unternehmen gehören heute die großen Internetkonzerne mit ihren riesigen Kapitalreserven.
Wie kann es da sein, dass sie in Europa nicht selten weniger als zehn Prozent Steuern auf ihre Gewinne zahlen, während der normale mittelständische Betrieb seine Erträge ordentlich versteuert? Diese Ungleichbehandlung ist ungerecht, sie ist aber auch schlechte Wirtschaftspolitik. Sie verzerrt den Wettbewerb. Und der öffentlichen Hand fehlen die Mittel für notwendige Infrastrukturinvestitionen.
Keine nationalen Insellösungen
Um Steuerschlupflöcher zu schließen und Investitionen zu erhöhen, brauchen wir Europa, denn nationale Insellösungen sind zu schwach. Aber wir brauchen auch ein Europa mit den richtigen Zielen und der richtigen politischen Führung. Es darf nicht so weitergehen, dass jeder Handwerksmeister in Deutschland höhere Steuersätze zahlt als große Konzerne, die zwar in Deutschland ihre Gewinne machen, sich dann aber in Europa eine Steueroase aussuchen können.
Die Frage ist: Welches Bild haben wir von Europa? Europa ist ein Projekt der Chancengleichheit von Bürgerinnen und Bürgern. Wer das nicht glaubt, sollte sich in der Welt umschauen und bedenken, was diesen Kontinent ausmacht: Städte ohne eingezäunte Reichenviertel und Slums, öffentliche Räume, für die man keine Club-Karte und keine privaten Leibwächter braucht, lebenswerte Kommunen, die für alle Menschen da sind.
Mehr Gleichheit! Das ist unsere Stärke.