Berlin/Passau/Gorleben. Kanzlerin Angela Merkel hat die Erkundung des Salzstocks Gorleben als mögliches Atommüll-Endlager im Untersuchungsausschuss verteidigt. Ihr Vorgehen als damalige Umweltministerin sei “richtig, verantwortbar und notwendig“ gewesen. Kritiker halten die Gorleben-Entscheidung für politisch motiviert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat vor dem Gorleben-Untersuchungsausschuss des Bundestages ihr Vorgehen als Umweltministerin in den neunziger Jahren verteidigt. Aus ihrer damaligen Sichtweise sei die Erkundung des Salzstocks Gorleben als Standort für ein Atommüll-Endlager "richtig, verantwortbar und notwendig" gewesen, sagte Merkel am Donnerstag. Zugleich wies sie Darstellungen zurück, es habe damals bereits eine Entscheidung für Gorleben gegeben.
Die Eignung Gorlebens sei bis Ende ihrer Amtszeit als Ministerin im Jahr 1998 nicht erwiesen gewesen, sagte die Kanzlerin. Daher habe es auch Überlegungen für eine Erkundung von Alternativstandorten gegeben - für den Fall, dass Gorleben sich entgegen den damaligen Erwartungen als ungeeignet erweisen sollte. Merkel wies auch darauf hin, es sei damals Konsens in der unionsgeführten Bundesregierung gewesen, dass die Atomenergie "einen wesentlichen Beitrag zur Stromversorgung leisten" solle.
Der Untersuchungsausschuss soll klären, ob die vor Jahrzehnten getroffene Entscheidung zugunsten der ausschließlichen Erkundung des Salzstocks Gorleben nach rein fachlichen Erwägungen erfolgte oder von politischen Erwägungen beeinflusst war. Hintergrund sind Vorwürfe, die Bundesregierung unter dem damaligen Kanzler Helmut Kohl (CDU) habe ab 1983 Einfluss auf wissenschaftliche Expertisen genommen. Merkel war von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin.
Zweifel an rein fachlichen Überlegungen
Die Mitglieder des Ausschusses hatten von der Kanzlerin am Donnerstagvormittag Auskunft über Entscheidungen in ihrer Zeit als Umweltministerin von 1994 bis 1998 verlangt. Zweifel hegen sie vor allem an einer Interpretation Merkels, die eine Studie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe als Bestätigung für Gorleben als möglichen Standort für ein atomares Endlager wertete, obwohl der Salzstock gar nicht Gegenstand der Untersuchung war. In der Kritik steht zudem die Entscheidung, das ursprüngliche Erkundungskonzept damals zu verändern.
Seit zweieinhalb Jahren geht ein Untersuchungsausschuss der Frage nach, ob die Entscheidung für Gorleben als mögliches Atommüllendlager nach rein fachlichen Überlegungen erfolgte oder womöglich politisch motiviert war. Hintergrund sind Vorwürfe, die Bundesregierung unter dem damaligen Kanzler Helmut Kohl (CDU) habe ab 1983 Einfluss auf wissenschaftliche Expertisen genommen. Der Ausschuss wird seinen Bericht voraussichtlich im nächsten Jahr nach der Landtagswahl in Niedersachsen vorlegen, auch wenn die Opposition diesen gerne früher präsentieren würde.
Vorwürfe von den Grünen
Vorwürfe gegen die Bundeskanzlerin kamen im Vorfeld von den Grünen. Fraktionschef Jürgen Trittin und Atomexpertin Sylvia Kotting-Uhl werfen Merkel vor, in den 90er-Jahren die Öffentlichkeit in der Debatte über das beste atomare Endlager getäuscht und aus politischen Gründen den Salzstock im niedersächsischen Gorleben bevorzugt zu haben. "Die Wissenschaftler haben sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dass ihre Ergebnisse von der damaligen Umweltministerin Merkel benutzt wurden, um Gorleben als alternativlos darzustellen. Angela Merkel hat die Öffentlichkeit getäuscht", sagte Trittin der "Passauer Neuen Presse".
Die atompolitische Sprecherin der Grünen, Kotting-Uhl, warf Merkel ebenfalls vor, die Öffentlichkeit getäuscht zu haben. Die fragliche Studie habe verschiedene Salzstöcke untersucht, nicht aber Gorleben. Dennoch habe Merkel unter Verweis auf die Studie die "erstaunliche Aussage" getroffen, dass alle anderen Standort schlechter als Endlager geeignet seien als Gorleben, sagte Kotting-Uhl im ARD-"Morgenmagazin". Sie unterstellte Merkel und der damaligen Bundesregierung politische Motive für ihr Vorgehen. "Man wollte an Gorleben festhalten", sagte Kotting-Uhl. Die Endlagerfrage habe damals "so schnell wie möglich und so billig wie möglich" gelöst werden sollen.
Gorleben fehlt schützende Decke
Umweltschützer haben dem Salzstock im Wendland erneut die Eignung als Atommüll-Endlager abgesprochen. Im Vergleich zu anderen Salzstöcken schneide Gorleben mit "kaum untersuchunsgwürdig" ab, sagte der Atomexperte von Greenpeace, Mathias Edler, am Mittwoch. Zu diesem Ergebnis komme eine Studie der Umweltschutzorganisation. Sie wende die bis heute gültigen Auswahlkriterien der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Bergbau (BGR) für ein atomares Endlager erstmals auf den Salzstock Gorleben an, sagte Edler weiter.
Ein zentrales Auswahlkriterium sei danach ein intaktes Deckgebirge. Es schütze das Salzgestein vor Auflösung durch eindringendes Wasser. Zudem stelle es eine weitere Barriere für eventuell austretende Radionuklide dar. Seit Abschluss der obertägigen Erkundung im Jahr 1981 sei bekannt gewesen, dass dieses dem Salzstock Gorleben fehle. "Mit diesem Mangel wäre Gorleben nicht einmal annähernd in die Spitzengruppe der vier favorisierten Standorte gelangt", erklärte Edler.
"Merkel hätte Gorleben stoppen müssen"
Die entwickelten Kriterien habe auch Merkel in ihrer Amtszeit als Bundesumweltministerin in den 1990er Jahren gekannt. Dennoch habe sie die Erkundung des Salzstocks Gorleben weiter vorangetrieben. "Merkel hätte Gorleben schon damals stoppen und andere Standorte erkunden müssen", sagte Edler.
Atomkraftgegner aus dem Wendland kritisierten, dass der Salzstock Gorleben trotz offenkundiger Mängel weiterhin untersucht werde. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) habe die Verlängerung des Hauptbetriebsplans über Ende September hinaus beantragt, sagte Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg.
Atomkraft: Eine Chronologie in Ausschnitten
Untersuchungsausschuss hat bereits 2800 Aktenordner gesichtet
Zudem habe am Mittwoch in Bonn ein dreitägiges Symposium zu den Ergebnissen der "Vorläufigen Sicherheitsanalyse Gorleben" (VSG) begonnen. 2010 hatte der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) diese Studie in Auftrag gegeben, sie soll den Wissensstand zu Gorleben zusammenfassen. Kritiker bemängeln, dass vorwiegend Institute und Wissenschaftler an der VSG mit arbeiteten, die als Befürworter der Atomkraft und eines Endlager in Gorleben gelten. "So verspielt man schon vor einem angeblichen Neuanfang bei der Endlagersuche das Vertrauen der Bevölkerung", sagte Ehmke.
Rund 2.800 Aktenordner haben die Mitglieder des Gorleben-Untersuchungsausschusses bereits gesichtet und mehr als 50 Zeugen angehört. Bei seinen Nachforschungen konzentriert sich der Untersuchungsausschuss vor allem auf drei Phasen: Die Entscheidung von 1976/1977, Gorleben als "vorläufigen Standort eines nationalen Entsorgungszentrums für ausgebrannte Kernbrennstoffe" zu benennen, der Beschluss von 1983, den Salzstock untertägig zu erkunden und das Festhalten an Gorleben in den 90ern. Die Opposition wirft Merkel vor, aus ideologischen Gründen an der Linie der Vorgängerregierungen festgehalten zu haben. "Sie hätte die Chance gehabt, die Weichen anders zu stellen, ist aber ihrer Ideologie gefolgt", beklagt die Obfrau der SPD im Ausschuss, Ute Vogt.
Für Merkel war Gorleben "erste Wahl"
Fragen wirft vor allem die Interpretation Merkels der BGR-Studie von 1995 auf. 41 Salzformationen waren damals auf ihre mögliche Eignung als atomares Endlager untersucht worden, Gorleben war nicht Gegenstand der Studie. Dennoch wertete Merkel die Erkenntnisse als Bestätigung für den Standort. "Die Untersuchungsergebnisse der BGR zeigen für mich, dass es keinen Grund gibt, nach Ersatzstandorten zu suchen. Gorleben bleibt erste Wahl", teilte sie am 28. August 1995 in einer Presseerklärung mit. Die Obfrau der Linken im Ausschuss, Dorothee Menzner, spricht von einer "unsachlichen, wenn nicht gar manipulativen Darstellung". Merkel habe bewusst die Öffentlichkeit getäuscht.
Die Obfrau der FDP im Untersuchungsausschuss, Angelika Brunkhorst, weist diesen Vorwurf zurück. Merkels Aussage sei eine politische gewesen, "die auch zur Beruhigung derjenigen Bürgerinnen und Bürger sowie derjenigen Politiker dienen sollte, die aufgrund von Medienberichten über die BGR-Salzstudie befürchteten, dass in ihrer Umgebung demnächst nach einem Endlagerstandort gesucht werden könnte", betont die FDP-Politikerin.
"aufpASSEn"
Keine Bereitschaft zu Probebohrungen
Ähnlich argumentiert auch der Obmann der CDU, Reinhard Grindel. "Es hat zu keinem Zeitpunkt Bereitschaft in anderen Bundesländern gegeben, auch nur Probebohrungen zuzulassen, um mögliche alternative Standorte zu betrachten", konstatiert er und räumt ein, dass es daher durchaus eine politische Entscheidung gewesen sei, bei der Suche nach einem Atommüllendlager auf die Erkundung alternativer Standorte zu verzichten.
Merkel wird aber auch die Frage beantworten müssen, warum die Bundesregierung in den Jahren 1996 und 1997 entschied, die Erkundung auf den nordöstlichen Teil des Salzstocks zu beschränken. Die Obfrau der Grünen im Untersuchungsausschuss, Sylvia Kotting-Uhl, verweist auf die höheren Risiken einer Teilerkundung und fordert Aufklärung, ob sich Merkel bestehenden Sachzwängen zulasten der Sicherheit gefügt habe. "Der eigentliche Grund, dass man an Gorleben festhielt und beschloss, dieses Konzept zu verändern, ist die von den Energieversorgungsunternehmen geforderte Kostenreduktion", sagt sie.
Keine neuen Erkenntnisse erwartet
Grindel und Brunkhorst verwehren sich auch dagegen. Der eigentliche Grund für das neue Konzept seien veränderte Anforderungen an das Fassungsvermögen eines Endlagers gewesen. "Die ursprünglich prognostizierte Abfallmenge hatte sich mindestens um den Faktor zwei reduziert, da der Ausbau der Kernenergie nicht die anfänglich 50 geplanten Kernkraftwerke erreicht hatte", argumentieren die beiden. Man habe sich die weitere Erkundung zudem immer vorbehalten.
Merkels Antworten auf die aufgeworfenen Fragen wurden zwar mit Spannung erwartet, mit neuen Erkenntnissen rechnete indes kaum noch jemand. Grindel spricht von einem der "längsten, teuersten und überflüssigsten Untersuchungsausschüsse in der Geschichte des Bundestages". Vogt hingegen ist überzeugt: "Ohne diese Aufarbeitung hätte man sicherlich auch nicht so einen sorgfältiges Verfahren jetzt bei der Frage eines neuen Endlagersuchgesetzes." Seit vergangenem November ringen Bund und Länder um ein solches Gesetz. Ob Gorleben Teil der neuen Endlagersuche sein wird, ist offen. (dapd/afp)