Essen. Der Aufkauf gestohlener Schweizer Bankdaten durch das Land NRW hat offenbar einen weit größeren Umfang gehabt als von der NRW-Regierung bisher eingeräumt. Die Schweizer Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass deutsche Behörden nicht nur die Kontendaten und Namen von Steuersündern erworben, sondern einen Bankangestellten zur Wirtschaftsspionage angestiftet haben.

Für die Frühschicht im Regionalgefängnis Bern war es ein Schock. Untersuchungshäftling Wolfgang U. hing am 29. September 2010 gegen 6.30 Uhr tot in der Zelle. Um den Hals spannte sich ein Fernsehkabel. Die Untersuchung ergab: Der 42-jährige Österreicher aus Arzl im Tiroler Pitztal „hat sich das Leben genommen. Dritteinwirkung kann ausgeschlossen werden“.

U. betrieb bis zu seiner Festnahme im schweizerischen Wil eine Designfirma - und war der Mann, der Anfang 2010 für einen Preis von 2,5 Millionen Euro den Verkauf gestohlener Schweizer Bankdaten an die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen vermittelt hat. Sie enthielten 1100 Namen und Kontodaten von deutschen Steuerflüchtigen.

Sein dramatischer Tod ist der Höhepunkt in einem Stück, das von Steuerhinterziehung an Rhein und Ruhr handelt, von einer darin verwickelten Schweizer Bank, vom Verrat des kleinen Angestellten Sina L. an den deutschen Kunden und dem Freitod seines Bekannten in der Berner Zelle. Es handelt aber auch von einer womöglich weit aktiveren - und rechtlich fragwürdigen - Rolle der Datenkäufer aus Nordrhein-Westfalen.

Häufung von Zufällen?

Alles beginnt, so hat die Bundesanwaltschaft der Schweiz ermittelt, im Jahr 2007. Hinter der ehrwürdigen Front im teuersten Geschäftsviertel der Welt am Zürcher Paradeplatz steuert die mächtige Credit Suisse (CS) ihre 50 000 Mitarbeiter. Die Bilanzsumme der Großbank liegt bei einer Billion Schweizer Franken. Ausgeklügelte Sicherheitssysteme sorgen für das Vertrauen der wohlhabenden Kundschaft rund um den Globus, zu der bis heute deutsche Staatsbürger gehören - oft mit Einkünften, von denen heimische Finanzämter nichts wussten.

2007 versagt dieses Sicherheitssystem. Dem damals 26 Jahre alten CS-Mitarbeiter asiatischer Herkunft, der sich privat für Autos interessiert, gelingt der große Coup. „Aus Zeitvertreib, Leidenschaft, sowie historischem Interesse an der Nazi-Zeit“, stellten die Bundesanwälte später fest, beginnt L. am Arbeitsplatz in den internen IT-Systemen Host und Frontnet „gewisse Bankkundendaten zu recherchieren und von Hand auf Papier zu notieren“. Die Zugangsberechtigung hat er. Die Beute trägt er abends in der Aktentasche nach Hause.

Monate später kommt es zu einer Häufung von Zufällen. Sina L. lässt die Notizen in seinem Fitnessclub liegen. Wolfgang U. findet sie, nimmt mit L., den er flüchtig kennt, Kontakt auf. Beide erkennen „das Gewinnpotenzial“ - denn gerade wurde der deutsche Post-Chef Zumwinkel nach dem Kauf einer CD aus Liechtenstein der Steuerhinterziehung überführt. Sina L. und Wolfgang U. entwickeln ihr eigenes Geschäftsmodell. Partner wird das deutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen. Seinen Behörden soll der Datenschatz angeboten werden.

Zwei Versionen - eine Wahrheit

Was dann passierte - darüber gibt es zwei Versionen. Die der damaligen schwarz-gelben Landesregierung in NRW, die auch vom rot-grünen Düsseldorfer Kabinett aufrechterhalten wird. Sie heißt: Ein Vermittler bot der Landesregierung vor Februar 2010 die CD mit den Steuersünder-Namen an. Der damalige Landesfinanzminister Helmut Linssen (CDU) ließ, nach dem Eingang von fünf Probedaten, die Rechtmäßigkeit des Aufkaufs prüfen. Dann kaufte er, unterstützt vom Bundeskollegen Wolfgang Schäuble, für 2,5 Millionen Euro. Der Handel war umstritten. Der Chef der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder, warnte: „Mit Dieben sollte sich der Staat nicht gemein machen“. Auch Staatsanwälte hatten ein mulmiges Gefühl. Aber letztlich siegte die Gewinnerwartung. 2,5 Millionen Euro als Einsatz für geschätzt 400 Millionen Nachzahlungs-Einnahmen in einer Situation, in der Opel auf der Kippe stand und die Staatseinnahmen wegbrachen? Ein gutes Geschäft. Am 26. Februar 2010 erklärte Linssen: „Die Verhandlungen über den Ankauf sind abgeschlossen. Die CD liegt seit Freitag der Finanzverwaltung vor“.

War es so einfach? Hat U. quasi als Trödler am Rheinufer mit der Silberscheibe gewedelt? Auch: Gab es nur eine CD? Hier kommt die zweite Version ins Spiel, die der Schweizer Ermittler. Nach Feststellungen der Bundesanwaltschaft in Bern haben Sina L. und Wolfgang U., erstens, nicht nur „eine Vielzahl von Kundendaten“ an NRW verkauft, sondern auch „bankinterne Dokumente“ - konkret zwei bis drei Powerpoint-Präsentationen, die die Richtlinien der CS zum Umgang mit deutschen Kunden enthielten.

Das Duo hat dies, zweitens, auch nicht in einem Rutsch mit einer einzigen Datei ausgeliefert, sondern in einer sich über zwei Jahre erstreckenden Zusammenarbeit mit der Landesregierung. Die Berner Ankläger sind heute überzeugt: U. habe „mit den deutschen Behörden die Verbindung aufrecht erhalten“, ja, selbst die Verhandlungen geführt. Er habe „Aufträge der deutschen Vermittler wie zum Beispiel Anforderungen zusätzlicher Kontoinformationen, Aushändigung interner Unterlagen an Sina L. weitergeleitet“. „Immer wieder“ sei es zu Gesprächen mit den Deutschen gekommen - und L. bekam seit Mitte 2008 auch Einzelleistungen bezahlt. 2000 Franken gab es für ein Powerpoint-Paket.

Stimmt dies alles, könnte man sagen: L. war eine Art geführter V-Mann, wie ihn Geheimdienste in Firmen und Behörden für Informationsbeschaffung einkaufen.

Die tote Oma und die Erbschaft gab es nicht

Wirtschaftsspionage ist kein Delikt alleine der modernen Zeit. Inder haben sich 500 nach Christus Seidenraupen aus China „besorgt“. Die erste Papiermühle in Deutschland 1389 konnte nur funktionieren, weil der Gewürzhändler Ulman Stromer die Rezeptur für Papier illegal aus Andalusien beschafft hatte. Die Augsburger Fugger spionierten die Eigenschaften des Monsunwinds aus. Heute drehen Staaten wie China an diesem Rad. Staatliche Stellen der Volksrepublik hacken sich in die Datenbanken der deutschen Wirtschaft. Fast immer geht es um viel Geld.

Am Ende hatten auch U. und L. viel Geld aus der Düsseldorfer Landeskasse. Genau 318 790,48 Franken erhielt der junge Hacker, den Rest der Vermittler. Aber Geld hinterlässt Spuren, wissen nicht nur Steuersünder. U. fragte im Frühjahr 2010 bei einer Bank im österreichischen Bregenz nach einer renditeträchtigen Anlagemöglichkeit für eine „Erbschaft“ von 830 000 Euro. Doch die tote Oma gab es nicht. Die Bank entlarvte die Flunkerei und witterte Geldwäsche. In seiner Not legte der Tiroler eine Erklärung der Oberfinanzdirektion Rheinland vor, gezeichnet von Ulrich Müting, dem Chef persönlich: Die Summe diene „der Begleichung einer vertraglichen Verpflichtung des Landes Nordrhein-Westfalen“. Der Oberstaatsanwalt in Innsbruck empfahl, die Geldwäsche-Ermittlung fallen zu lassen, aber das Wiener Justizministerium gab den Kollegen in der Schweiz, die in der Sache Credit Suisse im Dunkeln tappten, den Tipp weiter. Im September klickten in U.’s Grafikbetrieb in Wil die Handschellen, 48 Stunden später auch bei L., der in Prag bei der Freundin war.

Die Bilanz: Wolfgang U., der Mann, der mit der NRW-Regierung pokerte, ruht seit eineinhalb Jahren auf dem kleinen Friedhof im Alpendorf Arzl.

Zwei Jahre Haft auf Bewährung

Der Schweizer Bundesstrafrichter Walther Wüthrich verurteilte Sina L. am 15. Dezember 2011 zu zwei Jahren auf Bewährung, was milde ist, hatte doch Bundesanwalt Carlo Buletti auf „wirtschaftlichen Nachrichtendienst, Geldwäsche, Verletzung von Betriebs- und Bankgeheimnissen“ plädiert. Weil L.’s voller Name unbekannt bleibt, kann er ein neues Leben beginnen. Irgendwo.

In Deutschland flogen 1100 Steuersünder auf, 200 in NRW. Sie mussten und müssen mindestens 400 Millionen Euro nachzahlen.

Die Regierung in Bern handelte mit Berlin ein Steuerabkommen aus. Deutsche Anleger in der Schweiz bleiben danach weiter inkognito, werden aber künftig 19 bis 34 Prozent Pauschalsteuer zahlen, die der deutschen Staatskasse überwiesen werden. Das ist immer noch weniger als der 42-prozentige Spitzensteuersatz.

Die Eidgenossen schließlich wollen die 2,5 Millionen Euro „Finderlohn“ beschlagnahmen, die NRW gezahlt hat. Reste davon konnten in Österreich und Tschechien aufgetrieben werden. Der Großteil aber liegt auf deutschen Konten. Die Berner Bundesanwaltschaft stellte mehrfach Rechtshilfeersuchen an die deutschen Behörden. Die schweigen.

Aber Schweigsamkeit gehört, wie der dumme Zufall, als pikante Zutat zur Akte Credit Suisse.