Berlin. Taleb A. tötete auf einem Weihnachtsmarkt mehrere Menschen. Eine Denkfabrik hat sein X-Profil ausgewertet und kommt zu einem klaren Schluss.
Schon lange bevor Taleb A. mit einem dunklen BMW in den Weihnachtsmarkt von Magdeburg rast und mehrere Menschen tötet, da fällt er auf. Im Februar 2017 interessiert sich der spätere mutmaßliche Attentäter für einen Post auf der Plattform X, die damals noch Twitter heißt. Es soll ein Zitat des umstrittenen US-Autors Sam Harris sein. Es geht so: „Es ist an der Zeit, dass wir zugeben, dass wir uns nicht im Krieg gegen den ‚Terrorismus‘ befinden. Wir befinden uns im Krieg mit dem Islam.“
Wenige Monate später schreibt Taleb A. selbst – und seine Worte sind nicht weniger radikal. Der Islam sei „schlimmer als die Pest“. Im Juli 2019 postet er einen Kommentar auf Twitter, dass es sein Ziel sei, den Islam vollständig abzuschaffen. „Um den Islam auszurotten, muss man den emotionalen Reflex ausschalten, den Muslime als explosive Wut zeigen, wenn sie Kritik an ihrer Religion hören.“
Es sind Auszüge aus einer Social-Media-Analyse der Denkfabrik Institute for Strategic Dialogue (ISD), die unserer Redaktion vorab vorliegt.
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Attentat: Taleb A. radikalisierte sich wohl im Internet
Wenige Tage vor Weihnachten verübt Taleb A., 50 Jahre alt, mutmaßlich den Anschlag. Er fällt mitten in den laufenden Wahlkampf, befeuert die Debatte über Migration. Noch etwas ist an dem Fall besonders: Selten zuvor ist in Deutschland ein Attentäter so aktiv in den sozialen Netzwerken gewesen. Der Mann aus Saudi-Arabien, der seit 2006 in Deutschland lebt und arbeitet, setzt in acht Jahren mehr als 120.000 Posts auf Twitter, heute X, ab. Zugleich fällt er den Ämtern seit Jahren auf, mit Drohungen, mit Klagen und Beschwerden. Vieles ist den Behörden über Taleb A. bekannt, vieles ist sogar öffentlich. Trotzdem konnten sie den Anschlag nicht verhindern. Derzeit beginnt in Magdeburg ein Untersuchungsausschuss zu der Tat.
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Das genaue Motiv des Täters für das Attentat ist bis jetzt nicht klar. War er politisch motiviert? War er psychisch krank? Oder beides? Aber passt Taleb A. tatsächlich in keine Schublade?
Die ISD-Analyse kommt zu dem klaren Schluss, dass A. „im Vorfeld des Anschlags im Internet durch konsequent rechtsextreme und antimuslimische Ansichten auffiel“. Das Institute for Strategic Dialogue, kurz ISD, ist eine 2006 gegründete unabhängige Denkfabrik zur Konfliktforschung, Extremismus und Terrorismus mit Sitz in London.
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Ein Team um Jakob Guhl hat mithilfe der Software „Brandwatch“ 117.271 seiner Tweets abrufen können. Davon waren demnach 99.884 auf Arabisch, 6.513 auf Englisch und nur 527 auf Deutsch. Zuletzt hatte A. dort mehr als 40.000 Follower.
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180 Beiträge hat ISD nach eigenen Angaben genauer ausgewertet, vor allem jene, die besonders viel Resonanz von anderen Nutzerinnen und Nutzern bekamen. Die Inhalte auf seinem X-Profil würden „eine deutliche Sprache“ sprechen, sagt Guhl. „Hier kannte der mutmaßliche Attentäter nur ein einziges Thema: 90 Prozent seiner Online-Posts unterstützen rechtsextreme Politiker oder hatten einen Bezug zu seiner Ablehnung des Islams.“
Ein früherer Muslim, der rechtsextrem ist? Die Forschung erkennt hybride Täterprofile
Interessant ist: Taleb A. war einst selbst Muslim. Er arbeitete zuletzt als Facharzt für Psychiatrie. Selbst hierher migriert, war der Mann jahrelang in der saudischen Exil-Community unterwegs, sah sich selbst als Flüchtlingsaktivist, inszenierte sich als Helfer für saudische Frauen. Ein früherer Muslim, der rechtsextrem ist? Das ist sicher nicht repräsentativ für viele Menschen, die dem Islam den Rücken zugekehrt haben. Zugleich müssen Islam und rechte Ideologie kein Widerspruch sein. Die türkisch-nationalistischen Grauen Wölfe zählt der Verfassungsschutz zu den rechtsextremen Organisationen mit mehr als 12.000 Mitgliedern.
Bereits 2016 hat Taleb A. demnach Muslime diskriminiert: „Es reicht nicht aus, den Muslimen die Wahrheit zu erklären. Man muss erst einen neuen Verstand implantieren, um ihre Anti-Fakten-Disposition zu ersetzen.“ Die Feindseligkeit gegenüber dem Islam zieht sich wie ein roter Faden durch seine öffentlichen Äußerungen. Im März 2024 teilt A. laut der ISD-Analyse einen Beitrag, in dem er den Islam beschuldigte, den „Bevölkerungsaustausch“ zu fördern. Nach dem Mannheimer Anschlag im Juni 2024 hat er behauptet, dass die „deutsche Polizei der echte Treiber des Islamismus in Deutschland“ sei.
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Die Analysten von ISD kommen zu dem Schluss, dass Taleb A. ideologische Bezüge zum sogenannten „Counter-Jihad-Movement“ (CJM) zeige und er immer wieder Inhalte von Personen und Organisationen geteilt habe, die mit der Bewegung verbunden sind. Das britische Centre for Research and Evidence on Security Threats (CREST) beschreibt das CJM als „loses Netzwerk von Gruppen und Individuen, die den Westen im Krieg mit dem Islam“ sehen, zu denen Blogger, Autoren, eigene Medienseiten gehören.
Organisiert ist die Bewegung vor allem in Europa und Nordamerika, miteinander verbunden über sozialen Medien im Internet und Chatgruppen, veranstaltete aber auch mehrere Konferenzen. Der norwegische Massenmörder und Terrorist Anders Breivik wurde laut Fachleuten von der Counter-Jihad-Bewegung ideologisch inspiriert. In den vergangenen Jahren wurde es etwas stiller um das CJM. Die extrem rechte Szene diversifizierte sich weiter, neue Gruppierungen kamen auf, gewannen an Zulauf.
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Auch wenn das soziale Profile von Taleb A. nach Recherchen des ISD eine eindeutige Sprache spricht, so erschien Taleb A. nach bisherigem Kenntnisstand immer wieder auch wahnhaft und besessen. In mehreren Bundesländern war er den Behörden aufgefallen, er selbst erstattete Anzeigen aufgrund von Streitigkeiten, er selbst wurde angezeigt. Laut einem internen BKA-Papier, das nach dem Anschlag durch die Polizei erstellt wurde, gab es über die Jahre mehr als 100 Behördenvorgänge zu Taleb A. Ein psychiatrisches Gutachten steht nach Informationen unserer Redaktion noch aus, soll aber in den kommenden Wochen erstellt werden.
Auch das Ziel, der Weihnachtsmarkt, passt nicht so sehr in eine rechtsextreme Ideologie – wird eher in dschihadistischen Milieus propagiert. Doch Täter, die sich aus mehreren Extremismen bedienen, erkennt die Forschung immer wieder. Auch hybride Täterstrukturen, in denen sich persönliche mit ideologischen Motiven mischen, kommen vor. Der Soziologe Matthias Quent erkennt im Fall Taleb A. zusammenfassend derzeit eine Mischung aus persönlichen und politischen Tatmotiven: islam- und staatsfeindlich, aber gespeist durch Verfolgungswahn und Verschwörungsvorstellungen.
Ab 2020 sind die Beiträge von Taleb A. „immer kritischer gegenüber Deutschland“
Taleb A. sitzt in Untersuchungshaft. Die Ermittlungen laufen bei der Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe hat den Fall nicht übernommen – ein Hinweis darauf, dass die Strafverfolger nicht ausreichend Hinweise auf eine terroristische Tat sehen, sondern eher persönliche Gründe im Vordergrund stehen könnten.
Ab 2020 sind nach Recherchen von ISD die Beiträge von Taleb A. in dem sozialen Netzwerk „immer kritischer gegenüber Deutschland und der Haltung der deutschen Behörden zum Islam“ geworden. In vielen Beiträgen zeigte der mutmaßliche spätere Attentäter zudem Sympathien für extrem rechte Parteien und Politiker wie den niederländischen Politiker Geert Wilders und den britischen Anti-Islam-Aktivisten Tommy Robinson.

Und auch die AfD fand bei Taleb A. Anklang. Im Juni 2017 erklärte er laut der ISD-Analyse auf seinem X-Profil, dass „ich und die AfD denselben Feind bekämpfen, um Deutschland zu schützen“. Nach dem tödlichen Anschlag in Mannheim im Sommer vergangenen Jahres retweetete Taleb A. einen Beitrag, in dem es hieß: „Nur von der AfD haben wir den Ausweg aus dem Wahnsinn zu erhoffen.“ Im September 2024 postete er demnach ein Video von der aktuellen AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel, in dem sie angeblich über „die Wahrheit über Einwanderung in Europa“ spricht.
Weidel selbst besuchte Magdeburg nur wenige Tage nach dem Anschlag. Sie sprach zu Anhängern auf einer Bühne, erntete Applaus. Den mutmaßlichen Täter Taleb A. nannte sie einen „Islamisten“. Das schlossen die Sicherheitsbehörden schon damals aus. Weidel nahm eine Lüge in Kauf, um Stimmung zu machen.
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