Berlin. Mehr als 100 Vermerke listet das Dokument. Es geht um Anzeigen, Warnungen aus dem Ausland – und um eine geplante „auffällige“ Transaktion.
Der letzte Eintrag ist der 19. Dezember 2024. Es ist der Tag, bevor Taleb A. zuschlägt und mit einem Mietwagen über den Magdeburger Weihnachtsmarkt rast. Er tötet mindestens sechs Menschen und verletzt mehr als 300. Am Tag vor der Tat verurteilt ein Berliner Gericht Taleb A. „wegen Missbrauchs von Notrufen und Beeinträchtigung von Unfallvergütungs- und Nothilfemitteln“ zu insgesamt 600 Euro Geldstrafe.
Der Eintrag ist der letzte auf 16 Seiten, auf denen das Bundeskriminalamt 105 Vermerke listet. Unserer Redaktion konnte die Chronologie einsehen. In der Tabelle sind Anzeigen, Gerichtsurteile, Warnungen ausländischer Nachrichtendienste aufgeführt – und eine „auffällige Transaktion“, die offenbar geplant war.
105 Vermerke, die alle im Zusammenhang mit Taleb A. stehen. Der erste Eintrag bezieht sich auf den März 2006, es ist die Einreise von A. aus Saudi-Arabien nach Hamburg. Einige Jahre ist es ruhig, Taleb A. fällt den Behörden nicht auf. Er studierte Medizin, ist als Arzt zu Gast in Deutschland. Zuletzt arbeitete Taleb A. als Psychiater in einer Fachklinik in Bernburg südlich von Magdeburg.
Doch ab 2013 sammeln sich die Behördenvorgänge zu Taleb A. Nach dem islamistischen Anschlag auf den Marathon in der US-Stadt Boston droht A., damals noch in Mecklenburg-Vorpommern, den dortigen Behörden. Offenbar hatte es zuvor einen Konflikt gegeben über die Zulassung zur Facharztprüfung durch die Ärztekammer.
Schon 2014 kommt es zu einer ersten Gefährderansprache durch die Polizei in Anklam
Taleb A. soll sich bedrohlich geäußert haben, er werde handeln, etwas, das „internationale Beachtung finden“ werde. Dabei verweist er laut dem BKA-Papier auf den Anschlag in Boston. Das Amtsgericht in Rostock verurteilt A. zu einer Geldstrafe. Der Mann ist nun vorbestraft. Schon im Januar 2014 soll es laut den Unterlagen zu einer „Gefährderansprache“ durch die Kriminalpolizeiinspektion Anklam gekommen sein. Details dazu sind bisher nicht bekannt.
Und so setzt sich die Liste fort. Taleb A. droht, beleidigt, provoziert. Und er kokettiert immer wieder auch mit Gewalt. Er stellt Anzeigen gegen Personen in seinem Umfeld, auch gegen einen Flüchtlingshilfsverein in Köln, wirft den Mitarbeitenden Spionage für Saudi-Arabien vor. Er kassiert Gegenanzeigen. Insgesamt sechs Bundesländer sind mit Taleb A. im Laufe der Jahre befasst, darunter nicht nur Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, sondern auch Hamburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Die Vorwürfe erhärten sich nicht.
Saudi Arabien wollten eine „Red Notice“ bei Interpol erwirken
2020 wirft Taleb A. vier saudi-arabischen Personen vor, sie würden mit der Regierung in Riad kooperieren und Frauen aus dem Land betrügen, sie gegen Geld mit falschen Pässen ausstatten. Zugleich äußern einzelne Personen auch Vorwürfe gegen Taleb A., er verhelfe Frauen aus Saudi-Arabien nach Deutschland. Im Sommer will die National Crime Agency in Großbritannien mehr Informationen zu Taleb A. von den deutschen Behörden. Es geht auch um den Vorwurf des Menschenhandels, der illegalen Beschaffung gefälschter Personaldokumente, der Beteiligung an Schleusungshandlungen. Doch „konkrete und tatsächliche Anhaltspunkte“ auf Straftaten seien den Hinweisen nicht zu entnehmen, antworten die deutschen Strafverfolger.
Brisant sind vor allem die Warnungen aus dem Ausland, vor allem aus der Heimat von Taleb A., Saudi-Arabien. Die dortigen Sicherheitsbehörden stellen immer wieder Äußerungen in den sozialen Medien durch Taleb A. fest, mit „hetzartigem Inhalt“. Im September 2023 wollen saudische Stellen eine „Red Notice“ zu A. bei der internationalen Polizeiorganisation Interpol erwirken. Die deutschen Behörden sollen A. festnehmen und ausliefern, nennen A. einen „Terroristen“.
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Doch sowohl Interpol als auch die deutschen Behörden sind skeptisch. Sie wissen, dass das Regime in Saudi-Arabien politische Gegner rigoros verfolgt. A. hatte zuvor Schutz durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erhalten. Bei einer Rückkehr nach Saudi-Arabien drohe ihm die Hinrichtung, hält das BKA-Dokument für den Vorgang fest. Den Wünschen aus Riad kommen die Behörden nicht nach.
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Die Bundesbehörden von Polizei und Verfassungsschutz, aber auch der Bundesnachrichtendienst sind dennoch weiter mehrfach mit Taleb A. befasst. Ende 2023 warnen saudische Sicherheitsdienste erneut, A. drohe auf seinem Social-Media-Profil: „Something big will happen in Germany.“ Zu diesem Zeitpunkt ermitteln bereits Polizisten in Sachsen-Anhalt gegen Taleb A. Wie schon 2013 geht es auch jetzt, zehn Jahre später, um die Androhung von Straftaten und die Störung des öffentlichen Friedens.
Weitere krude Drohungen in den sozialen Medien folgen auch 2024. Zweimal suchten Polizisten A. in Sachsen-Anhalt auf. Sie wollen ihm mit einer „Gefährderansprache“ offenbar signalisieren, dass sie ihn auf dem Schirm haben. Zuletzt besuchten die Beamten in Anfang Oktober 2024 in der Klinik in Bernburg. Details zu den „Gefährderansprachen“ sind unklar.
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Eine geplante „Transaktion“ fällt der Sparkasse in Magdeburg auf
Die Chronik des BKA mit insgesamt 105 Vorgängen zeichnet das Bild eines heute 50 Jahre alten Mannes, der seit Jahren hetzt, droht, provoziert. Immer wieder zeigt er Menschen an, wird selbst angezeigt und beschuldigt. Immer wieder sucht er Kontakt zu Behörden, gibt krude Kommentare ab. Sogar beim Bundesinnenministerium.
Vor allem aber droht er immer wieder mit Gewalttaten. Vor allem dieser Aspekt ruft die Frage auf, warum die deutschen Sicherheitsbehörden Taleb A. nicht enger ins Visier nahmen. Offenbar fehlte Polizei und Nachrichtendiensten bis zuletzt ein klares Bild des späteren Täters, eine genaue Einschätzung, wie gefährlich er tatsächlich sein könnte – was ernste Drohungen, was nur Spinnerei und Wahn zu sein scheint.
Am heutigen Donnerstag trifft sich der Innenausschuss des Bundestags, um über das Papier des BKA zu diskutieren. Es wird auch um die Frage gehen, ob die Sicherheitsbehörden durch einen besseren Umgang mit den vorliegenden Informationen den Anschlag hätten verhindern können.
Auffällig ist zuletzt noch Eintrag Nummer 23 in der Liste des BKA vom September 2017. Demnach meldete die Stadtsparkasse Magdeburg eine „auffällige“ geplante Transaktion an die Finanicial Intelligence Unit (FIU) des Zolls. Die FIU ist die nationale Stelle, die vor allem Geldwäsche, aber auch Terrorfinanzierung bekämpfen soll. Der Sparkasse fällt eine Überweisung auf, von Saudi-Arabien nach Deutschland: in Höhe von 200.000 Euro.
Sicherheitsbehörden bestätigen den Fall gegenüber unserer Redaktion, nennen keine Details. Die Sparkasse gibt auf Nachfrage an, sie äußere sich „grundsätzlich“ nicht über Kundenbeziehungen. Auch die FIU will nichts zu dem Fall sagen. Unklar ist, ob da jemals überhaupt Überweisungen geplant waren – und was Taleb A. damit zu tun haben soll. Klar scheint vor allem: Irgendein hoher Geldbetrag wurde nie überwiesen. Die Sicherheitsbehörden sehen laut BKA-Liste keinen Anhaltspunkt für mögliche kriminelle Machenschaften. Der Vorgang hat keine Folgen.
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