Berlin. Der Militärexperte Carlo Masala rechnet damit, dass die USA Europa fallen lassen. Die Konsequenzen für Deutschland wären dramatisch.

Die US-Regierung von Donald Trump hat eine neue Zeitenwende eingeleitet. Was kann der Gewinner der Bundestagswahl tun, um Europa vor einem russischen Angriff zu schützen? Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Münchner Bundeswehr-Universität, zeichnet ein beunruhigendes Szenario – und sagt, was auf die Menschen in unserem Land zukommt. 

Herr Masala, woran messen Sie die nächste Bundesregierung?

Carlo Masala: Ich messe die Regierung daran, ob sie in kürzester Zeit drei Fragen klären wird: die dauerhafte Finanzierung deutscher Verteidigung, die Lösung des Personalproblems der Bundeswehr – und das Organisieren einer breiten Koalition, die Europa in wenigen Jahren verteidigungsfähig macht.

Wie viel Geld muss der neue Kanzler – mutmaßlich Friedrich Merz – für die Bundeswehr aufbringen?

Masala: Wir müssen uns darauf einstellen, dass die USA aus Europa abziehen und ihre militärischen Fähigkeiten den Europäern im Rahmen der Nato nicht mehr zur Verfügung stellen. Dann reden wir nicht mehr davon, drei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben, sondern fünf oder sechs Prozent. Europa wird eigene Aufklärungssatelliten, strategische Transportfähigkeiten und Marschflugkörper brauchen, die von Europa aus Ziele tief im russischen Raum treffen können. Mit dem Taurus kommen wir nicht weit. 

Wie wollen Sie das finanzieren? 

Masala: Es wird nicht reichen, die Schuldenbremse zu lockern und Ausgaben im Bundeshaushalt umzuschichten. Ich schlage vor, zusätzlich einen Solidaritätszuschlag auf Verteidigung zu erheben – nach dem Vorbild der Sonderabgabe für den Aufbau Ost. Alle Erwerbstätigen sollten – befristet auf fünf Jahre – ein oder anderthalb Prozent ihres Einkommens für Verteidigung entrichten. Ausnahmen kann es höchstens für Geringverdiener geben. Verteidigung geht die ganze Nation an.

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Sie haben auch das Personalproblem der Bundeswehr angesprochen. Ist die Zeit für eine Rückkehr zur Wehrpflicht gekommen?

Masala: Ich war immer dagegen, aber wir kommen nicht umhin, die Wehrpflicht wieder einzusetzen. Das kann die nächste Regierung nicht sofort machen, weil uns die Strukturen fehlen. Wir müssen anfangen mit dem schwedischen Modell einer Musterungspflicht – und gleichzeitig die Voraussetzungen schaffen, eine größere Anzahl von Männern und Frauen einzuziehen. Ich denke an 30.000 bis 45.000 Wehrpflichtige. Dafür brauchen wir neue Kasernen, mehr Ausbilder und mehr Material. 

Ihr dritter Punkt war eine europäische Verteidigungskoalition. Auf welche Staaten zählen Sie?

Masala: Großbritannien, Frankreich, Deutschland natürlich, Italien, Benelux, die nordischen Staaten, die baltischen Staaten, Polen, Rumänien, vielleicht Bulgarien. Ungarn wird mit einem Viktor Orban nicht mitmachen aus grundsätzlicher ideologischer Opposition. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sich Portugal beteiligen würde, weil es einfach weit weg ist vom momentanen Kriegsgeschehen. Wir brauchen für die vier Jahre der Trump-Administration einen belastbaren Plan, wer wann was zur europäischen Verteidigungsfähigkeit beiträgt. 

Würde Trump wirklich tatenlos zuschauen, wenn Putin einen europäischen Nato-Staat angreift?

Masala: Alles, was wir von der amerikanischen Administration gerade hören, läuft darauf hinaus, dass man Putin letzten Endes die Ukraine übergibt – ohne etwas von ihm zu fordern. Dieser Sieg wird Putins Gelüste steigern, weitere Staaten anzugreifen. In den USA wächst die Bereitschaft, ihre Truppen aus den baltischen Staaten, Polen und dem Kosovo zurückzuziehen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Putin in den nächsten Jahren mit einer begrenzten Aktion oder vollumfänglich gegen einen Nato-Staat vorgehen wird. Ob die USA dann ihren europäischen Verbündeten zu Hilfe zu eilen – daran kann man momentan wirklich ein Riesen-Fragezeichen machen. 

Professor Carlo Masala
Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Münchener Bundeswehr-Universität, sagt, was auf die Menschen in unserem Land zukommt.  © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Brauchen die Europäer dann auch neue Atomwaffen? 

Masala: Momentan hören wir aus den Vereinigten Staaten, dass der nukleare Schutz für uns bestehen bleibt. Aber wenn die Amerikaner in Europa konventionell kaum noch vertreten sind, wird die Diskussion kommen, wie glaubwürdig dieser Schutz ist. Für die Befreiung von Warschau würden die USA nicht die Vernichtung von New York riskieren. 

Ergo? 

Masala: Um sicher zu sein, braucht man ein strategisches Arsenal und ein taktisches Arsenal. Franzosen und Briten verfügen nur über strategische Atomwaffen. So viel Geld können die Europäer gar nicht in die Hand nehmen, um auch noch taktische Atomwaffen zu entwickeln. Aber wenn es in den USA so weitergeht, werden wir die Diskussion über neue Nuklearwaffen mit aller Macht bekommen

Die Präsidenten Donald Trump (links) und Wladimir Putin bei einem Treffen 2018 in Helsinki während der ersten Amtszeit Trumps. Der Amerikaner möchte den Ukraine-Krieg am liebsten im Alleingang mit dem russischen Machthaber beenden.
Die Präsidenten Donald Trump (links) und Wladimir Putin bei einem Treffen 2018 in Helsinki während der ersten Amtszeit Trumps. Der Amerikaner möchte den Ukraine-Krieg am liebsten im Alleingang mit dem russischen Machthaber beenden. © AFP | Yuri Kadobnov

Trumps Gefolgsleute mischen sich auch in den deutschen Wahlkampf ein, werben unverhohlen für die AfD. Wie ordnen Sie das ein? 

Masala: Darüber sollten wir uns nicht groß beschweren. Die deutsche Politik hat auch keinen im Unklaren gelassen, wen sie gerne im Weißen Haus sehen würde. Da kriegen wir jetzt eine Retourkutsche. Richtig ist aber, dass Trump und seine Leute systematisch europaskeptischen Kräften helfen, an die Macht zu kommen. Die USA wollen ein schwaches Europa, gerade auch wirtschaftlich. 

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Malen Sie sich aus, welche Außenpolitik eine Kanzlerin Alice Weidel machen würde?

Masala: O Gott! Eine AfD-geführte Bundesregierung würde sich mit Freude zu Vasallen der USA und Russlands machen. Weidel als Kanzlerin würde Trump und Putin die Füße lecken. 

Trump will, dass die Europäer eine Friedensvereinbarung in der Ukraine sichern - ohne die USA. Ist das realistisch?

Masala: Es geht um eine Truppe, die 30.000 bis 100.000 Soldaten umfasst. Das kann Europa alles stellen. Aber dann reißen wir Lücken in die Nato-Verteidigung und geben Putin die Gelegenheit, das Baltikum oder Polen anzugreifen.

Professor Carlo Masala
Militärexperte Carlo Masala bei einem Besuch der FUNKE Zentralredaktion in Berlin. Mit Blick auf Ukraine-Friedensverhandlungen sagt er nun im Interview: „Trump wird sehr viele Zugeständnisse machen, damit er einen schnellen Deal bekommt.“ © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Würde Putin überhaupt Nato-Soldaten in der Ukraine akzeptieren? 

Masala: Die Nato ist komplett draußen. Es geht entweder um eine rein europäische Friedenstruppe oder um eine internationale, an der sich Europäer genauso beteiligen wie Chinesen, Inder, Brasilianer. Eine internationale Friedenstruppe bekommt ein Mandat der Vereinten Nationen, das schwach sein wird, weil Russen und Chinesen im UN-Sicherheitsrat darüber mitentscheiden. Diese Truppe würde nur mit einer Sicherheitsgarantie der Amerikaner abschreckend auf Putin wirken. Aber die wird es nach jetzigem Stand nicht geben. 

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Meine schwerste Entscheidung

Sollte sich Deutschland ohne Zusicherung der USA an einer Ukraine-Truppe beteiligen?

Masala: Die Polen haben schon abgewunken, und ich denke, eine Beteiligung ohne US-Sicherheitsgarantie würde auch bei uns ein Problem werden. 

Trump will Putin noch diesen Monat treffen. Was sind Ihre Erwartungen?

Masala: Putin sitzt am längeren Hebel. Er braucht – anders als Trump – keinen Erfolg dieser Verhandlungen. Wenn Putins Forderungen nicht erfüllt werden, führt er einfach den Krieg weiter. Trump wird sehr viele Zugeständnisse machen, damit er einen schnellen Deal bekommt. Trump will die Beziehungen zu Russland normalisieren. Der Rest interessiert ihn nicht. 

Was geschieht im schlimmsten Fall?

Masala: Es kommt zu einem Ukraine-Deal, der alle Wünsche Putins erfüllt. Die Amerikaner ziehen sich aus Europa zurück – und in vier Jahren haben wir den nächsten Krieg, entweder gegen die Rest-Ukraine oder gegen einen Nato-Staat.

Und im besten Fall?

Masala: Welchen besten Fall wollen Sie denn hören? Momentan gibt es keinen besten Fall. Wir haben eine tektonische Veränderung der transatlantischen Beziehungen. Die Amerikaner fallen als der Sicherheitsgarant Europas aus. Sie nähern sich Russland an – in einer Zeit, in der Russland imperialer ist, als es in den letzten 60 Jahren war. Da fällt es mir schwer, irgendein Best-Case-Szenario darzubieten.