Brüssel. Brisante Studie: Was Europa an Soldaten und Waffen braucht, um ohne die USA einen Angriff Russlands abzuwehren. Es wird sehr teuer.

Es ist die große Sorge in Deutschland und Europa: US-Präsident Donald Trump könnte US-Soldaten abziehen und den Kontinent bei einem Angriff Russlands auf das Baltikum oder Polen im Stich lassen. Kann sich Europa dann allein verteidigen? Eine neue Studie kommt zu einer klaren Antwort: Europa muss dafür massiv aufrüsten, das wird sehr teuer – auch für Deutschland. Allein zur Vorbereitung auf einen Landkrieg in Osteuropa müsste Deutschland als europäischen Beitrag die Bundeswehr um zusätzlich fast 100.000 Soldaten aufstocken, bislang hat die Truppe 180.000 Soldaten. Und: Die jährlichen Verteidigungsausgaben Deutschlands müssten von aktuell 80 Milliarden auf 140 Milliarden Euro steigen – deutlich mehr als ein Viertel der gesamten Bundesausgaben im Jahr. Insgesamt müsste Europa kurzfristig jedes Jahr 250 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen – für mehr Soldaten, Panzer, Raketen, Munition.

Die brisante Studie hat das Brüsseler Bruegel-Institut gemeinsam mit dem Kieler Institut für Weltwirtschaft vorgelegt. Der abrupte Richtungswechsel der USA sei ein „Schock“ für Europa, sagt Mitautor Guntram Wolff, der an beiden Instituten forscht und zuvor Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin war. „Ein russischer Angriff auf ein Land der EU ist denkbar“, so die Studie. Das könne nach Einschätzung der Nato innerhalb der nächsten drei bis zehn Jahren passieren. Womöglich auch früher. Der Report verweist auf die massive Aufrüstung des russischen Militärs und das geplante russische Großmanöver in Belarus in diesem Sommer, in dem Moskau seine Fähigkeiten unter Beweis stellen werde.

Abschluss der Nato-Übung Quadriga 2024
Soldaten der Bundeswehr trainieren bei einer Nato-Übung in Litauen Fähigkeiten, die zur Verteidigung der Nato-Ostflanke nötig sind. © DPA Images | Kay Nietfeld

Die Wissenschaftler geben deshalb nach dem Schock wegen Trumps Annäherung an Wladimir Putin eine erste Schätzung ab, wie viele Waffen und Truppen Europa schnell zu seiner Verteidigung ohne die USA benötigt. Dabei konzentriert sich die Untersuchung auf die Möglichkeit eines Landkriegs, da eine Invasion durch Russland die größte Sicherheitsherausforderung für Europa bleiben werde.

Europa braucht zur Abschreckung 50 neue Brigaden

Dafür müssten die Europäer die Kampfkraft von 300.000 US-Soldaten ausgleichen – jenen 100 000 Amerikanern, die in Europa stationiert sind, und den weiteren 200.000 Soldaten, die nach bisherigen Nato-Plänen im Ernstfall rasch auf den Kontinent gebracht würden, vor allem in Panzereinheiten „für das osteuropäische Schlachtfeld“. Als Ersatz notwendig sind laut Report 50 neue europäische Brigaden, dazu massive Aufrüstung: „Eine glaubwürdige europäische Abschreckung etwa gegen einen schnellen russischen Durchbruch im Baltikum würde mindestens 1.400 Kampfpanzer, 2000 Schützenpanzer und 700 Artilleriegeschütze erfordern. Das ist mehr als die Kampfkraft, die die französischen, deutschen, italienischen und britischen Landstreitkräfte derzeit zusammen haben“, so die Studie.

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Europa müsse außerdem Flug- und Transportkapazitäten aufbauen, brauche dazu Raketen, Kommunikations- und Aufklärungskapazitäten – und müsse mindestens 2000 Langstrecken-Drohnen jährlich herstellen lassen. Dafür müsse die Verteidigungsproduktion massiv ausgebaut werden, wobei eine Bündelung der Produktion und eine gemeinsame Beschaffung mit einheitlichen Standards die Kosten deutlich senken könne.

Studie: Verteidigungsausgaben müssen um 250 Milliarden Euro steigen

Im Ergebnis rechnen die Wissenschaftler damit, dass die europäischen Verteidigungsausgaben um 250 Milliarden Euro im Jahr steigen müssten – von aktuell zwei Prozent des Bruttosozialprodukts auf rund 3,5 bis 4 Prozent. 3 bis 3,5 Prozent ist ungefähr die Größenordnung, die in der Nato ohnehin diskutiert und möglicherweise beim Nato-Gipfel im Juni für die längerfristige Perspektive beschlossen wird. Die Wissenschaftler schlagen vor, die nötigen Mittel kurzfristig zur Hälfte gemeinsam über die EU und zur Hälfte schuldenfinanziert aus den nationalen Haushalten aufzubringen.

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Beides ist bereits in Planung: Die EU diskutiert einen gemeinsamen Verteidigungsfonds und eine Lockerung der Schuldenregeln, um höhere Militärinvestitionen der Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Bei der Finanzierung werde es „auf deutsche Führung und Einsatz ankommen“, betont der Report. „Derzeit bleiben die deutschen militärischen Fähigkeiten weit hinter den erforderlichen und den Verbündeten zugesagten Fähigkeit zurück.“ Deutschlands Zusage, für die Nato in diesem Jahr eine Division und im übernächsten Jahr eine zweite Division zu stellen, „steht vor erheblichen Rückschlägen“.

Nato-Übung Übung
Ein Kampfpanzer Leopard 2A4. Für die Abschreckung gegen einen russischen Angriff brauchen Deutschland und Europa auch mehr Panzer, mahnt eine neue Studie. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Überraschend zuversichtlich ist das Studienfazit im Hinblick auf die weitere Unterstützung der Ukraine, sollten die USA ihre Militärhilfe einstellen. Aus ökonomischer Sicht könne Europa die USA, deren Beitrag voriges Jahr bei 20 Milliarden Euro gelegen habe, vollständig ersetzen, dies erfordere nur zusätzlich 0,12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und sei „machbar“. Die Frage sei aber, ob Europa Waffenlieferungen ohne den Zugang zur militärisch-industriellen Basis der USA schaffen könnte. Auch seien die Ukraine und die EU auf wichtige strategische Fähigkeiten der Vereinigten Staaten angewiesen, etwa beim Geheimdienst oder der Satellitenkommunikation. Diese seien kurzfristig schwer zu ersetzen, „aber falls nötig, gibt es Ersatz“.