Witten. Friedrich Merz setzt mit seinem harten Migrationskurs alles auf eine Karte. Warum das schiefgehen kann, erklärt Prof. Lukas Stötzer.

Prof. Lukas Stötzer ist Experte für Wahlprognosen und politisches Verhalten an der Universität Witten/Herdecke. Im Gespräch mit Matthias Korfmann analysiert er die möglichen Folgen des „Rechtsrucks“ der Union im laufenden Bundestagswahlkampf. Stötzer rechnet mit einer hohen Wahlbeteiligung am 23. Februar.

Herr Prof. Stötzer, was macht der Streit um die Migrationspolitik und die Teil-Annäherung der Union an die AfD mit den Wählerinnen und Wählern?

Lukas Stötzer: Bevor wir darüber reden, sollten wir feststellen, dass wir vergangenen Woche im Bundestag eine Zäsur erlebt haben wie selten zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik: Friedrich Merz und Teile der Union haben wissentlich in Kauf genommen, Politik mit den Stimmen von der AfD durchzusetzen. Auf den ersten Blick sieht das nicht gut aus für Merz. Er hat sich verkalkuliert, er stand am Ende ohne Mehrheit für seinen Migrations-Gesetzentwurf da. Teile seiner Fraktion sind ihm nicht gefolgt, was die Frage nach Merz‘ der Führungsstärke aufwirft. Schließlich hat er Vertrauen bei anderen Parteien und damit auch Teilen der Wählerschaft verspielt.

Nochmal die Frage: Was macht das mit den Wählerinnen und Wählern?

Lukas Stötzer: Es gibt unterschiedliche Wählerschaften. Da sind die, die durch diese Zäsur stark mobilisiert und darin bestärkt werden, die Union nicht zu wählen. Dass der Unions-Spitzenkandidat in der Migrationsfrage in Kauf nimmt, gemeinsame Sache mit der AfD zu machen, dürfte auch einige Unionsanhänger abschrecken. Andererseits ist Migration ein großes Thema in diesem Wahlkampf, und viele Wählerinnen und Wähler wünschen sich laut Umfragen eine restriktivere Migrationspolitik. Es ist allerdings unklar, ob diese Menschen ihre Stimme am Ende der Union oder der AfD geben.

„Wenn Migration das Hauptthema ist, hilft das stets rechtsradikalen Parteien. Wenn konservative Mitte-Rechts-Parteien wie CDU und CSU das Migrationsthema intensiv aufgreifen, stoppt das diesen Trend nicht“: Prof. Lukas Stötzer, Universität Witten/Herdecke.
„Wenn Migration das Hauptthema ist, hilft das stets rechtsradikalen Parteien. Wenn konservative Mitte-Rechts-Parteien wie CDU und CSU das Migrationsthema intensiv aufgreifen, stoppt das diesen Trend nicht“: Prof. Lukas Stötzer, Universität Witten/Herdecke. © Universität Witten/Herdecke | Universität Witten/Herdecke

Merz geht also ein großes Risiko ein?

Lukas Stötzer: Absolut. Seine Strategie ist schwer nachvollziehbar. Wir wissen aus Landtagswahlen und Wahlen in anderen europäischen Staaten: Wenn Migration das Hauptthema ist, hilft das stets rechtsradikalen Parteien. Wenn konservative Mitte-Rechts-Parteien wie CDU und CSU das Migrationsthema intensiv aufgreifen, stoppt das diesen Trend nicht. Im Gegenteil: Rechtsradikale Parteien haben dann noch mehr Zulauf. Das haben wir in Österreich, in den Niederlanden, in Belgien, Italien und beim Brexit gesehen, denn auch beim Brexit ging es weniger um Wirtschaftspolitik als um Migration.

Das könnte auch bei der Bundestagswahl geschehen?

Lukas Stötzer: Genau. Ich glaube, die AfD ist der Hauptprofiteur dieses auf Migration fokussierten Bundestagswahlkampfes. Für die Union indes überwiegen die Risiken.

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„Friedrich Merz scheint zu Bauch-Entscheidungen zu tendieren“

Friedrich Merz hatte vor dieser Wendung alle Vorteile auf seiner Seite. Die Union schnitt in Umfragen recht gut ab. Sie selbst haben vor zwei Monaten geschrieben, Merz sei darauf bedacht, keine Fehler zu machen. Warum geht er auf einmal doch volles Risiko?

Lukas Stötzer: Wie gesagt, strategisch ist das schwer nachvollziehbar. Merz scheint zu Bauch-Entscheidungen zu tendieren, aber er hat auch eine Parteispitze hinter sich, die hinter seinem Kurs steht, allen voran CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann.

Sie sagen, die AfD könnte der Hauptprofiteur dieses sich zuspitzenden Wahlkampfes sein. Was ist mit anderen politischen Rändern? Mit der Linkspartei und mit dem BSW?

Lukas Stötzer: Die Linke profitiert von einer starken Mobilisierung und dürfte am Ende über die Fünf-Prozent-Hürde kommen. Für das BSW wird es schwer. Durch die starke Fokussierung auf Migration gerät ein Haupt-Mobilisierungsthema des BSW - Der Krieg in der Ukraine - in den Hintergrund. Und beim Thema Zuwanderung konkurriert das BSW gleich mit zwei Mitbewerbern: AfD und Union.

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Rechnen Sie mit einer hohen Wahlbeteiligung? 

Lukas Stötzer: Ja, sie dürfte weiter steigen. Dieser Wahlkampf ist sehr emotional geworden, und die Menschen sehen wieder, dass es um etwas geht. Lange wurde beklagt, dass sich CDU und SPD kaum noch voneinander unterscheiden. Das ist vorbei.

„Zweitstimme.org“: Versuch einer Wahl-Prognose

Prof. Dr. Lukas Stötzer von der Universität Witten/Herdecke (UW/H) ist Experte für Wahlprognosen und politisches Verhalten. Gemeinsam mit Forschenden der Hertie School Berlin und der Universität in Mannheim arbeitet er im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „Zweitstimme.org“ daran, den Wahlausgang auf Bundes- und Wahlkreisebene vorherzusagen.

Das Team von „Zweitstimme.org“ führt für die diesjährige Bundestagswahl umfassende Online-Befragungen mit Bürgerinnen und Bürgern, Journalistinnen und Journalisten sowie Wahlkreiskandidierenden durch. Abgefragt werden unter anderen ihre Einschätzungen, ihr Verhalten und ihre Einstellungen zur Wahl. Die Ergebnisse fließen laut dem Projekt in detaillierte Prognosen ein, „die sowohl das bundesweite Ergebnis als auch den Stand in den einzelnen Wahlkreisen täglich aktualisiert abbilden“.

Die Union hatte unter Angela Merkel 16 gute Jahre. Dennoch hat sie sich für eine Abkehr von dieser konsensorientierten Politik entschieden. Wie wirkmächtig ist eine Angela Merkel noch, die sich im von der Seitenlinie aus in den laufenden Wahlkampf einmischt?

„In den Merkel-Jahren war die CDU praktisch unbesiegbar“

Lukas Stötzer: Merkel ist noch einflussreich, und Teile von CDU/CSU trauern ihrem Kurs nach. Sollte der Wahlkampf für die Union jetzt in Umfragen schlechter verlaufen als gedacht, könnten die Risse innerhalb der Partei sichtbarer und kritische Stimmen lauter werden. In den Merkel-Jahren war die CDU praktisch unbesiegbar. Jetzt hat sie sich gleich auf zwei Seiten in einen sehr schwierigen Wettbewerb gestürzt, auf der rechten und auf der linken Seite.

Oft ist in diesen Tagen der Satz zu hören: „Ich weiß nicht, wen ich wählen soll.“ Ist die politische Unentschlossenheit der Menschen größer als früher?

Lukas Stötzer: In einer so stark fragmentierten Parteienlandschaft wird es zwar unübersichtlicher für Wählerinnen und Wähler, aber ich möchte dennoch widersprechen. Denn es gibt wieder klarere Lager, und das macht es den Menschen wiederum einfacher, sich zu entscheiden. Nicht für eine bestimmte Partei, aber für Parteien, die innerhalb eines Lagers sind.

Markus Söder fordert von der Union, nicht mit den Grünen zu koalieren. Christian Lindner will auf keinen Fall wieder mit den Grünen zusammenarbeiten. Wenn Demokraten die Zusammenarbeit untereinander ausschließen, machen sie Politik damit am Ende nicht unmöglich?

Lukas Stötzer: Diese negativen Koalitionssignale von Parteien dienen dazu, sich zu profilieren und vor ihrer Anhängerschaft unbeliebte Konstellationen auszuschließen. Es ist aber verheerend, wenn dann nach der Wahl trotzdem diese Konstellationen gesucht werden müssen. Nicht eingehaltene Ausschlüsse von Koalitionen können zur Enttäuschung und Unzufriedenheit auf Wählerseite führen.

„Eine Regierung ist immer zum Erfolg verdammt“

Die Ampel ist krachend gescheitert. Was halten Sie von der These, dass die nächste Bundesregierung zum Erfolg verdammt sei, um einen künftigen Erfolg der Rechtspopulisten verhindern zu können?

Lukas Stötzer: Eine Regierung ist immer zum Erfolg verdammt. Politik muss die Probleme der Menschen lösen und Führungsstärke zeigen.

Das hat sie zuletzt aber nicht getan. Sie löst wenige Probleme, beschäftigt sich dafür aber gern mit sich selbst.

Lukas Stötzer: Es gibt ja tatsächlich viele Krisen gleichzeitig, und das macht das Problemlösen so schwierig.

Warum sind heute so viele Menschen dazu bereit, eine in Teilen rechtsextreme Partei zu wählen? Sind die Menschen geschichtsvergessen? Sind sie verführbarer geworden?

Lukas Stötzer: Das hat auch etwas damit zu tun, dass sich demokratische Kräfte wie die Union, die SPD und zum Teil sogar die Grünen Themen der extremen Rechten zu eigen machen, und diese damit aufwerten und legitimieren. Das läuft auf einen Überbietungswettbewerb hinaus, den die Demokraten nicht gewinnen können.

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