Berlin. Er fiel durch bekannte Täterraster der Polizei. Der Fall Taleb A. zeigt: Sicherheitsbehörden müssen ihren Blick weiten. Wie das gelingen kann.

Ein 50-Jähriger mit anerkanntem Beruf als Psychiater. Ein Ex-Muslim, der angibt, Geflüchteten zu helfen. Ein Saudi, der seit vielen Jahren hier lebt. Und gleichzeitig ein Hetzer und Querulant, der mit der radikal rechten AfD sympathisiert. Ein Mensch mit Gewaltfantasien. All das ist Taleb A. offenbar. Und wenige Tage vor Weihnachten machte er aus seinen Ankündigungen und Provokationen ernst – er mietete einen BMW und raste auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Mehr als 200 Menschen wurden verletzt, sechs von ihnen tötete Taleb A. mit seinem Attentat.

Wer ist Taleb A.? Ein Rechtsextremist? Ein psychisch Kranker? Ein radikaler Anti-Muslim? Oder all das? „Würde Taleb A. so aussehen wie der rechtsterroristische Attentäter Anders Breivik und einen Nachnamen wie Uwe Böhnhardt der Terrorgruppe NSU tragen, hätten die Beamten die Drohungen der Gewalt womöglich ernster genommen“, sagt Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz, der auch dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags vorsitzt. „Nur weil der Täter hier Ex-Muslim ist und aus einem arabischen Staat kommt, heißt das nicht, er kann kein Rassist sein.“

Tatort Weihnachtsmarkt: Menschen haben Blumen, Kerzen und Plüschtiere in Magdeburg niedergelegt.
Tatort Weihnachtsmarkt: Menschen haben Blumen, Kerzen und Plüschtiere in Magdeburg niedergelegt. © dpa | Heiko Rebsch

Die Tat von Magdeburg offenbart ein Problem: Sicherheitsbehörden tun sich schwer damit, Gewalttäter zu erkennen, die nicht in bekannte Raster passen. Das zeigte sich schon 2016 nach dem Attentat im Einkaufszentrum in München, als ein Teenager mit Wurzeln im Iran mehrere Menschen tötete. Lange stuften die Behörden den Fall nicht als rechtsextrem ein, obwohl die Hinweise deutlich waren.

Das Problem für die Behörden: Die Täterprofile, die nicht alten Bildern von Neonazis und Dschihadisten entsprechen, nehmen zu. 2021 schuf der Verfassungsschutz die Kategorie der „Delegitimierer des Staates“, in der die Dienste Verschwörungsideologen, Querdenker, rechte Esoteriker sammelten. Schon das war eine erste Reaktion auf neue radikale Tätertypen. Auch psychische Erkrankungen und politische Ideologie mischen sich vermehrt bei Gewalttätern. Das macht es nicht leichter, zu entscheiden, was Wahn ist, was Spinnerei – und was gefährlich ist.

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Bis zu 80 Vorgänge sollen sich über die Jahre zu Taleb A. bei den Behörden angesammelt haben: Gerichtsverfahren, Anzeigen, Meldungen aus seinem Umfeld, Hinweise aus dem Ausland. Manche Einträge gelten demselben Sachverhalt, manches doppelt sich. Und doch ist klar: Bei Taleb A. gab es viele Informationen. Polizisten vor Ort in Sachsen-Anhalt wollten ihn 2023 sogar aufsuchen, für eine „Gefährderansprache“, trafen ihn offenbar nicht an. Der Fall versandete anscheinend. Weder Verfassungsschutz noch lokale Polizeidienststellen oder das Bundeskriminalamt nahmen Taleb A. genauer ins Visier. All das ist Teil der laufenden Aufarbeitung.

„Radar iTE“ ist ein Prognosewerkzeug, das dem BKA im Anti-Terror-Kampf hilft

Das alles erinnert an den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt 2016 in Berlin. Auch der Täter Anis Amri war den Behörden als Gewalttäter und Islamist bekannt. Verfassungsschutz und Polizeibehörden hatten ihn auf dem Schirm – und doch verschwand er vom Radar. Bis er zuschlug.

Das Bundeskriminalamt hat reagiert und ein Instrument entwickelt, das den Ermittlern helfen soll,  Gewalttäter besser zu erkennen. Vor allem soll es filtern: Wer ist wirklich gefährlich, wer eher ungefährlich. Denn vor allem das ist wichtig: Die Polizei muss bei der Vielzahl der Gefährdungslagen wissen, an welche Personen sich die Beamte anheften. „Radar iTE“ ist ein Prognosewerkzeug, und im Prinzip besteht es aus Tabellen, die Polizisten nutzen. Darin sind rund 70 Kriterien, ein standardisierter Katalog, der viel stärker als früher auf die Biografie, das Umfeld und die Psyche des Täters eingeht.

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Familienpackung

Doch im Fall Magdeburg kam es nicht zum Einsatz. Denn offenbar erreichte der Fall Taleb A. nie die Anti-Terror-Abteilung des BKA. Auch eine weitere Instanz blieb außen vor: Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, das GTAZ, in Berlin. Ein Raum, in dem regelmäßig Staatsschützer, Geheimdienstler und Vertreter des Generalbundesanwalts und der Asylbehörden zusammensitzen. Sie bereden Einzelfälle, die mutmaßlich gefährlichsten Extremisten Deutschlands. Auch Anis Amri war hier Thema, bevor er den Anschlag verübte. Der Fall Taleb A. schaffte es auch in dieses Gremium nicht.

Nach dem Anschlag in Magdeburg stellt sich die Frage, warum die Informationen nicht ausreichten, dass Taleb A. durch Fachleute vom BKA überprüft wurde. Und warum es keine Fallkonferenz zu der Vielzahl von Hinweisen zu dem späteren Attentäter gab. „Der Austausch der Informationen bei Ermittlungen muss über Ländergrenzen des Föderalismus besser funktionieren. Die Polizei muss wissen, was die Polizei weiß“, sagt von Notz. Weitergabe von Ermittlungserkenntnissen dürfe beispielsweise nicht an unterschiedlicher Behörden-Software scheitern.

Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) kommen am Tag nach dem Anschlag zur Trauerfeier nach Magdeburg.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) kommen am Tag nach dem Anschlag zur Trauerfeier nach Magdeburg. © AFP | Ronny Hartmann

Zugleich muss ein lokaler Polizist vor Ort in Sachsen-Anhalt wissen, dass er Hilfe bei Zentralstellen bekommen kann. Die Polizei ist eine hierarchische Organisation, Meldewege von einer Dienststelle bis zum BKA führen über Polizeipräsidien und Landesbehörden. Der Fall Magdeburg zeigt, dass in dieser Hierarchie noch immer zu viele Informationen verloren gehen.

Der SPD-Fraktionsvize im Bundestag und Innenexperte Dirk Wiese hält das Werkzeug „Radar“ beim BKA für wichtig und will es potenziell auf weitere Fallgruppen erweitern. Zugleich hebt Wiese hervor: „Auf Länderebene fehlt allerdings oftmals die Möglichkeit der Verknüpfung mit dem Bundesprogramm.“ Hier brauche es rechtssichere IT-Systeme, die auch den Datenschutz ausreichend berücksichtigen. „Eine Befugnis bringt allerdings dann nichts, wenn wie in Sachsen-Anhalt vor Ort nicht die richtigen Schlüsse gezogen werden“, sagt Wiese.

Union fordert nach Attentat ein „Register für psychisch kranke Gefährder“

Im Bereich der Gewalt in Familien und Partnerschaften haben sich in verschiedenen Kommunen in Deutschland „Fallkonferenzen“ auch auf lokaler Ebene etabliert. Familienrichterinnen, Sozialarbeiter, Polizei und Jugendamt sitzen an einem Tisch und bereden einen Vorfall von Gewalt in der Nachbarschaft. Vernetzen sich Behörden auch bei extremistischen Gewalttätern besser, kann das helfen, Täter richtig einzuschätzen.

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    Christoph de Vries ist Innenexperte der Unionsfraktion im Bundestag. Er unterstützt einen Vorstoß seiner CDU für ein „Register für psychisch kranke Gefährder“. Das könne „die Grauzone zwischen Extremismus und psychischer Erkrankung“ besser abbilden, sagt de Vries. Ein solches Register kann Behörden sensibel machen für Täter, die psychisch auffallen. Zugleich geht es bei Erkrankungen um sehr private Informationen. Es müsste genau abgesteckt sein, wann der Staat hier Daten sammeln darf.

    De Vries will die jüngsten Anschläge von Mannheim und Solingen, bei denen jeweils ein Islamist zuschlug, sowie das Attentat von Magdeburg zum Anlass nehmen, den Sicherheitsbehörden noch mehr Befugnisse zu geben. „Sicherheitsbehörden, die nicht anlasslos einschlägige Telegram-Chats und andere Kommunikationskanäle monitoren dürfen, werden ansonsten weitgehend blind bleiben“, so der CDU-Politiker. Zugleich sagt er: „Ausländer, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung darstellen, müssen abgeschoben werden, auch wenn sie keine Straftaten begangen haben.“

    Innenpolitiker der Union: Christoph de Vries (CDU).
    Innenpolitiker der Union: Christoph de Vries (CDU). © dpa | Jonathan Penschek

    Nicht nur die Union, auch SPD und FDP wollen Extremisten schneller außer Landes schaffen, wenn sie ausländische Staatsbürger sind. Nur was, wenn die Täter längst Deutsche sind? Taleb A. lebte seit 2006 hier, hatte ein festes Einkommen, sprach Deutsch. Er hätte sich längst einbürgern können. Und andersherum: Der Berlin-Attentäter Anis Amri wollte im Sommer 2016, Monate vor der Tat, selbst ausreisen, in Richtung Schweiz. Doch die Bundespolizei hielt ihn auf, untersagte die Ausreise. Offiziell, weil Amri legale Reisedokumente fehlten. Einen „Gefährder“ hätte man ohne Pass nicht über die Grenze lassen können, gab der verantwortliche Polizist im Untersuchungsausschuss zum Berlin-Attentat 2020 zu Protokoll. Dies hätte „das internationale Ansehen Deutschlands“ beschädigen können.

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