Essen. Die Regierungschefin Angela Merkel mag zwar die Richtlinienkompetenz haben. Doch die normative Kraft des Faktischen ist auch in diesem Falle stärker: Vor dem Durchregieren stehen die Ministerpräsidenten.
Der Tag der Kanzlerwahl
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Der Bundestag tritt am Mittwoch zu seiner zweiten Sitzung in der neuen Legislaturperiode zusammen und wählt am Vormittag die Bundeskanzlerin. Laut Grundgesetz wird sie auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache und in geheimer Abstimmung gewählt.
Die Kanzlerin erhält um 12.00 Uhr im Schloss Bellevue von Bundespräsident Horst Köhler ihre Ernennungsurkunde. Anschließend kehrt Merkel zurück in den Bundestag und leistet dort ihren Amtseid. Danach verlässt sie gemeinsam mit den künftigen Ministern das Parlament. Das gesamte Kabinett stellt sich dann beim Bundespräsidenten vor. Dieser händigt den Ministern ab 15.00 Uhr ihre Ernennungsurkunden aus. Daraufhin kehrt das Kabinett geschlossen zurück in den Bundestag, wo die Minister ihren Amtseid leisten. Voraussichtlich am Donnerstag wird die Kanzlerin dann eine Regierungserklärung im Bundestag abgeben.
Angela Merkel kann Deutschland nicht durchregieren. Man muss das einfach noch einmal feststellen, weil allein schon das Wort von der Richtlinienkompetenz eines Bundeskanzlers eine Art von Allmacht nahelegt, die es nicht gibt. Merkel weiß das selbst sehr genau, denn sie ist bei Helmut Kohl in die Schule der Macht gegangen.
Kohl und die systemische Erpressung
Helmut Kohl wurde regelmäßig von den eigenen Parteifreunden erpresst. Allerdings war diese Erpressung, heute könnte man sagen: systemisch. Denn die Erpresser waren die Ministerpräsidenten, die einen Eid darauf geschworen hatten, für ihr Bundesland das Beste herauszuholen. Und wenn der damalige Kanzler Kohl denn eine Steuerreform haben wollte, dann verlangte als Gegenleistung für seine Zustimmung im Bundesrat der damalige Berliner Bürgermeister Diepgen mehr Geld für seine Stadt. In der Zeitung steht dann: Welch ein elendes Geschacher, aber in Ruhe betrachtet heißt dieses Phänomen: Föderalismus.
Nun, in ihrer zweiten Kanzlerschaft, wird es Merkel ergehen wie seinerzeit Kohl. Will Merkel Steuersenkungen haben, wird sie Sachsens Regierungschef Tillich oder Niedersachsens Ministerpräsident Wulff oder Jürgen Rüttgers aus Düsseldorf – nun ja: erpressen. Merkel wird dann nicht einmal unter Verweis auf ihre Rolle als Parteichefin hinweisen können auf die ihr geschuldete Solidarität unter Parteifreunden, denn das zählt nicht. Ministerpräsidenten sind gewählt, sie haben ihre eigene Legitimation, müssen sich von der Kanzlerin rein gar nichts vorschreiben lassen.
Merkel denkt: Alles meine Leute!
Aus diesem Grund wird sich Merkel II von Merkel I deutlich unterscheiden. In einer Großen Koalition ist die Mehrheit für Gesetze im Bundesrat sicher, in einer kleinen Koalition muss sie erkauft werden. Merkel wiederum wird bestrebt sein, die Ministerpräsidenten der Union im Zaum zu halten, nach Lenins Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ein Beispiel: Voller Stolz wird Rüttgers darauf verweisen, welche Nordrhein-Westfalen nun alle im Kabinett von Merkel sitzen. Und Merkel wird sich still denken: Lieber Jürgen, alles meine, nicht deine Leute. Viele der Bundeskabinettler aus NRW sitzen wiederum in Führungsgremien in NRW. Preisfrage: Wem werden sie dienen, Rüttgers oder Merkel?
Man mag das alles unschön finden oder anstößig oder mauschelig. Aber dahinter verbirgt sich ein schöner, demokratischer Gedanke. Niemand, weder eine Kanzlerin noch ein Ministerpräsident, hat je die ganze Macht. Auch wenn sie gerne so tun.