Essen. Der Tod eines Mannes in München, der mutig einschritt, um vier Kinder vor der Attacke zweier Jugendlicher zu schützen, erschüttert viele. Die WAZ sprach mit dem Bochumer Kriminologen Thomas Feltes über den Fall, seine Ursachen und Folgen.

Dominik B., der in München die so oft geforderte Zivilcourage zeigte, bezahlte dafür mit seinem Leben. Was hat er falsch gemacht?

Thomas Feltes: Nichts. Er hat alles richtig gemacht, genauso gehandelt, wie wir es empfehlen. Der Tod des Helfers war ein bislang einmaliger Vorfall. Ich hätte mir gewünscht, dass Bayerns Justizministerin das herausgestellt hätte, anstatt gebetsmühlenartig härtere Strafen für jugendliche Straftäter zu fordern.

Ein Spiegel der Gefühlskälte unserer Gesellschaft

Trotzdem schreckt ein solches Ereignis auch die wenigen, die sich überhaupt noch trauen, in Gewaltsituationen zu intervenieren...

Feltes: Richtig. Da hilft nur Aufklärung. Es gibt Risiken, die kann man nicht vollkommen beherrschen. Solche Taten werden immer wieder passieren. Wir leben leider in einer Gesellschaft, die immer weniger Zivilcourage zeigt. Menschen liegen wochenlang tot in ihrer Wohnung, bevor es jemand bemerkt; Kinder werden vernachlässigt – alles ein Spiegel der Gefühlskälte unserer Gesellschaft.

Was also tun, wenn man sieht, dass ein anderer Mensch attackiert wird?

Feltes: Die Polizei informieren. Mit dem Opfer reden, um zu klären, was da überhaupt passiert. Niemals selbst aggressiv werden, den Täter nie wegzerren oder angreifen. Sich mit anderen zusammentun.

Ein lauter Appell in die Runde, gezieltes Ansprechen

Leichter gesagt als getan. Wie mobilisiert man denn andere?

Feltes: Ein lauter Appell in die Runde kann schon helfen. Noch besser ist die gezielte Ansprache einer konkreten Person.

"Sie haben nichts mehr zu verlieren"

Täuscht der Eindruck, oder werden Jugendliche tatsächlich immer häufiger und immer massiver gewalttätig?

Feltes: Insgesamt geht die Jugendkriminalität zurück, was mit der sinkenden Zahl Jugendlicher beziehungsweise dem Erwachsenenwerden der Babyboomer zusammenhängt. Kriminologen streiten, ob es tatsächlich eine Brutalisierung gibt. Tatsache ist, dass es ein immer geringeres Interesse an unserem Nachwuchs gibt. Im Duell der Kanzlerkandidaten waren Jugendliche beispielsweise kein Thema. Und das ist typisch. Dabei haben viele von ihnen keine Perspektive. Sie haben nichts mehr zu verlieren und müssen die Anerkennung, die ihnen die Gesellschaft verweigert, anderswo suchen.

Welche Strafen haben die beiden Täter von München zu erwarten, sollten sie wegen Mordes verurteilt werden.

Feltes: Zehn Jahre Haft der 17-Jährige, lebenslänglich der 18-Jährige, wenn er nach Erwachsenen-Strafrecht verurteilt wird, was man in Bayern nicht ausschließen sollte.

Gefängnis ist kein geeignetes Mittel zur Resozialisierung

Bayerns Justizministerin Beate Merk und andere fordern nun eine drastische Verschärfung des Jugendstrafrechts. Schrecken härtere Strafen Jugendliche wirklich ab?

Feltes: Nein, und das weiß leider auch Frau Merk selbst. Studien zeigen, dass kein jugendlicher Täter in der Situation darüber nachdenkt, welche Strafe ihn erwartet. Wenn Politiker härtere Strafen fordern, ist dies reiner Populismus, bringt aber außer möglichen Wählerstimmen rein gar nichts. Im Gegenteil: Längere Haftstrafen sind dysfunktional. Je länger Sie jemanden wegsperren, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er nach der Entlassung rückfällig wird. Gefängnis ist kein geeignetes Mittel zur Resozialisierung.