Berlin. Die Nato hat eingestanden, dass bei dem Luftangriff am Freitag im Norden Afghanistans Zivilisten verletzt und getötet wurden. Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier kündigten eine «lückenlose Aufklärung» des Vorfalls an. Steinmeier bedauerte den Zwischenfall.
Bei dem Luftangriff am Freitag im Norden Afghanistans sind nach Angaben der Nato Zivilisten verletzt und getötet wurden. In einer am Dienstag in Kabul veröffentlichten Erklärung der Nato-Truppe Isaf heißt es, erste Untersuchungen ließen die Isaf davon ausgehen, «dass Aufständische, aber auch Zivilisten durch den Luftangriff getötet und verletzt wurden». Die Nato untersuche den Vorfall derzeit gründlich, um die genaue Zahl der zivilen Opfer feststellen zu können.
Mehrere Dutzend Menschen wurden bei dem von der Bundeswehr angeforderten Nato-Luftangriff auf zwei gestohlene Tanklastwagen in der Nähe des deutschen Stützpunktes in Kundus getötet. Umstritten ist, wie viele der Opfer radikalislamische Taliban und wie viele Zivilisten waren. Das Verteidigungsministerium in Berlin gab bisher die Zahl von 56 getöteten Taliban an, der Provinzgouverneur von Kundus, Mohammad Omar, sprach am Sonntag von 54 Todesopfern, unter ihnen sechs Zivilisten.
Merkel kündigt lückenlose Aufklärung an
Die Bundesregierung verwahrt sich derweil nach dem umstrittenen Luftangriff auf zwei gekaperte Tanklastwagen in Afghanistan gegen Vorverurteilungen. «Ich verbitte mir das - von wem auch immer im Inland wie im Ausland», sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Dienstag in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag in Berlin. Erneut kündigte sie eine «lückenlose Aufklärung» des Vorfalls an.
Forum
Diskutieren Sie mit anderen DerWesten-Lesern
Merkel bezeichnete den Luftangriff als «eine der schwersten militärischen Auseinandersetzungen der Bundeswehr mit den Taliban». Dabei gebe es über zivile Opfer widersprüchliche Meldungen. Das werde jetzt aufgeklärt. Die Kanzlerin stellte klar: «Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zuviel. Jeder unschuldig Verletzte ist einer zuviel.»
Afghanistan-Einsatz als Reaktion auf den Terror
Sollte sich dies auch bei dem Vorfall in Kundus herausstellen, dann bedauere sie das zutiefst, unterstrich Merkel am Vormittag. Doch sollte man den Ergebnissen der angelaufenen Untersuchung «nicht vorgreifen». Und im Übrigen dürfe man nicht vergessen, von wo die Terroranschläge vom 11. September 2001 ihren Anfang nahmen. «Der Afghanistan-Einsatz ist unsere Reaktion auf den Terror», sagte die Kanzlerin.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat sich hinter die Ankündigung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gestellt, den Nato-Luftangriff in Afghanistan umfassend aufzuklären. Dieser sei mehr als ein «bedauerlicher Zwischenfall» gewesen, sagte Steinmeier am Dienstag im Bundestag in Berlin. Damit könnte Deutschlands Politik diskreditiert werden, dass zivile Opfer vermieden werden müssten. Doch dürfe man nicht zulassen, «dass Vorverurteilungen auch im Ausland stattfinden», fügte der SPD-Politiker hinzu. Darüber habe er mit europäischen Amtskollegen ebenso geredet wie mit dem afghanischen Außenminister Rangin Dadfar Spanta.
FDP bekennt sich zum Militäreinsatz
Die FDP bekennt sich trotz des verheerenden Luftangriffs in Afghanistan zu dem Militäreinsatz der Nato in dem Land. Jene, die den Beitrag der Bundeswehr im Bundestag beschlossen haben, dürften sich «jetzt nicht einen schlanken Fuß machen», sagte FDP-Chef Guido Westerwelle am Dienstag in der Debatte des Bundestages. Er stellte sich ausdrücklich hinter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die in ihrer Regierungserklärung ihr Bedauern über mögliche zivile Opfer des Angriffs zum Ausdruck gebracht hatte. «Hier haben Sie für Deutschland gesprochen.»
Westerwelle kritisierte erneut die Informationspolitik von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) nach Bekanntwerden des Vorfalls. Dies habe «eher zur Verwirrung beigetragen», sagte der FDP-Chef. Deshalb sei es gut, dass Merkel erst gar nicht versucht habe, den Eindruck zu erwecken, als sei der Vorfall aufgeklärt.
"Krieg ist kein Mittel der Politik"
Die Linken drängen nach dem verheerenden Luftangriff in Afghanistan auf einen raschen Abzug der Bundeswehr aus dem Land. «Krieg ist kein Mittel der Politik», sagte Partei- und Fraktionschef Oskar Lafontaine am Dienstag in der Debatte des Bundestags. «Ziehen Sie die Bundeswehr aus Afghanistan ab.» Die NATO führe dort den Kampf gegen eine Kultur, der nie zu gewinnen sei. «Wir bewirken das Gegenteil von dem, was wir eigentlich bewirken wollen.» Durch den Einsatz der Bundeswehr erhöhe sich auch die Gefahr eines Terroranschlags in Deutschland, was selbst die deutschen Geheimdienste festgestellt hätten.
Die Afghanistan-Schutztruppe ISAF hat einen kanadischen Generalmajor mit der Leitung der Ermittlungen zu dem Raketenangriff bei Kundus beauftragt. Dem Untersuchungsteam gehören außerdem ein Bundeswehroffizier und ein amerikanischer Luftwaffenoffizier an, wie die ISAF am Dienstag in Kabul mitteilte. An dem Luftangriff auf zwei von den Taliban entführte Tanklastwagen am vergangenen Freitag waren sowohl die Bundeswehr als auch die US-Streitkräfte beteiligt. Bei der Militäraktion kamen nach Angaben der NATO vom Dienstag auch Dorfbewohner ums Leben.
Schrittweiser Rückzug
Nach dem von der Bundeswehr befohlenen umstrittenen Nato-Luftschlag in Nordafghanistan mehren sich die Stimmen, die einen konkreten Abzugszeitraum fordern. Die Bundesregierung plant laut einem Zeitungsbericht einen schrittweisen Rückzug von 2015 an. Wie die «Hannoversche Allgemeine Zeitung» unter Berufung auf Regierungskreise in Berlin schreibt, muss bis zu diesem Zeitpunkt in Afghanistan eine «selbsttragende Sicherheit» hergestellt werden. Den Zeitrahmen für die Beendigung des Einsatzes wolle die Bundesregierung auf der europäischen Afghanistan-Konferenz noch in diesem Jahr erörtern.
Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer erwartet derweil von der nächsten Bundesregierung «die Vorlage einer Strategie für einen Truppenabzug der Bundeswehr aus Afghanistan». Dabei müsse die Bundesregierung «von sich aus» aktiv werden und dürfe nicht nur internationale Entwicklungen abwarten, sagte er. (ap/afp/ddp)