Brüssel. Nach dem umstrittenen Luftangriff in Afghanistan mit Dutzenden Toten mehren sich die Schuldzuweisungen zwischen Deutschland und den USA. Für den Bundeswehrverband ist die Kritik eine "Retourkutsche" für frühere deutsche Aufrufe zu militärischer Zurückhaltung in Afghanistan.

Mit dem Amtsantritt von US-Präsident Barack Obama schien der Dauerkonflikt zwischen Deutschland und den USA um Afghanistan beigelegt, doch nun bricht er offen wieder aus. Nach dem umstrittenen Luftangriff mit mindestens 56 Toten mehren sich die Schuldzuweisungen zwischen Berlin und Washington. Der Angriff auf die beiden Tanklastzüge droht zu einer schweren Belastungsprobe für das Verhältnis der beiden Nato-Partner zu werden.

Das gab es in der achtjährigen Geschichte des Nato-geführten Afghanistan-Einsatzes noch nie: Ein US-General äußert im afghanischen Fernsehen Bedauern über einen von Deutschen angeordneten Luftangriff mit dutzenden Toten. In Berlin zieht der neue Oberbefehlshaber der Internationalen Afghanistan-Truppe (ISAF), Stanley McChrystal, mit seiner öffentlichen Missbilligung des deutschen Vorgehens scharfe Kritik auf sich.

"Ich halte es geradezu für unanständig von einem Nato-Befehlshaber, dass er die Sicherheit und auch das Leben deutscher Soldaten in Gefahr bringt, indem er in die Öffentlichkeit geht und voreilig den Eindruck erweckt, hier seien Zivilisten getötet worden», kritisiert der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, am Montag im Nachrichtensender N24.

Für Unmut in der Bundeswehr sorgt zudem ein Bericht der «Washington Post», der Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) mit hohen Totenzahlen in Erklärungsnot bringt. Dem Blatt zufolge sollen nicht nur gut 50 «terroristische Taliban» getötet worden sein, wie Jung zunächst anführt, sondern insgesamt 125 Menschen, darunter zwei Dutzend Zivilisten. Auf Druck des US-Berichts muss Jung einräumen, es habe womöglich doch zivile Opfer gegeben.

Für den Bundeswehrverband ist die Kritik aus den USA und Europa eine «Retourkutsche» für frühere deutsche Aufrufe zu militärischer Zurückhaltung in Afghanistan. Gleiches gilt in den Augen des Verbands auch für Kritik an dem deutschen Oberst, der den Luftangriff unter bisher nicht geklärten Bedingungen angeordnet hat.

Für Beobachter wirkt es wie eine ironische Brechung, dass Deutschland in Afghanistan plötzlich die Rolle des Hardliners einzunehmen scheint, während die USA die neue Nato-Strategie von Juli hochhalten, die auf weniger Luftangriffe und weniger zivile Tote abzielt. Immerhin geht diese Strategie aus Sicht der Bundesregierung maßgeblich auf deutschen Druck zurück.

Minister Jung spielt Misstöne herunter

In Berlin und Brüssel wird versucht, die Misstöne herunterzuspielen. Es gebe «keine Risse» zwischen den USA und Deutschland, lässt Minister Jung erklären. Auch im Nato-Hauptquartier ist von einem «engen Austausch» zwischen Washington und Berlin die Rede.

Für den Afghanistan-Experten Markus Kaim von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) markiert der Zwist dagegen das Ende eines «Scheinfriedens» zwischen Pentagon und Bendlerblock. Nach Kaims Einschätzung hat die Regierung Obama Kritik am mangelnden deutschen Engagement am Hindukusch nur mit Rücksicht auf die Bundestagswahl am 27. September zurückgestellt. Denn eine der ersten Amtshandlungen des neu gewählten Bundestages wird die Befassung mit dem umstrittenen Afghanistan-Mandat sein, das am 13. Dezember ausläuft.

Unter der Oberfläche brodeln die Spannungen zwischen Berlin und Washington schon seit Monaten weiter - sei es bei der US-Forderung nach mehr Truppen für Afghanistan, im Streit um eine Entsendung deutscher Soldaten in den umkämpften Süden oder beim Ruf Washingtons nach einer offensiveren Polizeiausbildung. «Nach der Bundestagswahl wird die Rechnung kommen», sagt Kaim. «Und wer das nicht gesehen hat, war naiv oder blind - oder beides.» (afp)