Essen. Am Vorabend des Bundesparteitags in Dresden ist die SPD in einem erbärmlichen Zustand. Ihr einst respektabler Vorrat an Selbstgewissheit und Identität ist aufgebraucht. Strategisch eingeklemmt zwischen Linkspartei und sozialdemokratisierter CDU, ist kein guter Ausweg in Sicht. Eine Analyse.

Nüchtern betrachtet hat die SPD schon Härteres überstanden als Abstürze bei Wahlen und Umfragen. Im Bismarck-Reich war die Partei über Jahre verboten, im Nationalsozialismus härtesten Verfolgungen ausgesetzt, die für Funktionäre und Mitglieder unmittelbar Lebensgefahr bedeuteten.

Doch ihrer inneren Selbstgewissheit, dem Glauben an die eigene Mission und an den „unaufhaltsamen” sozialen Fortschritt konnten solche Katastrophen wenig anhaben, im Gegenteil: Die SPD ging gestärkt daraus hervor. Weit schlimmer ist für eine Partei letztlich der schleichende Verlust der Identität. So gesehen steckt die SPD am Vorabend ihres Parteitags in der wohl größten Krise ihrer 146-jährigen Geschichte.

Notwendige Reformen abgerungen

Wie konnte es dazu kommen? Die SPD hat in der Mitte ihrer insgesamt elfjährigen Regierungszeit dem Sozialstaat Reformen abgerungen, die bei aller Detail-Kritik nötig waren. Nur die Sozialdemokratie besaß dafür den moralischen Kredit, eine CDU-geführte Regierung, die das gleiche versucht hätte, wäre wohl vor dem gesellschaftlichen Proteststurm in die Knie gegangen. Viele Sozialdemokraten wussten oder ahnten zwar um die Verstörung der eigenen Leute, doch kann die SPD, wenn sie einmal von etwas überzeugt ist, sehr konsequent sein.

Der Preis, der für diesen Dienst am Gemeinwesen gezahlt werden muss, ist hoch. Die SPD steckt im Schraubstock zwischen einer populistischen Linkspartei und einer CDU, die sich durchgreifend sozialdemokratisiert hat. Es ist tragisch: Das sozialdemokratische Denken feiert in Europa Triumphe und erfasst zögernd – in Gestalt einer Krankenkasse für alle – sogar Obamas USA. Die Partei aber, die von diesem Wandel am wenigsten profitiert, ist die SPD.

Nach links? Dann bröckelt die Mitte

Die Frage aller Fragen ist: Wie lässt sich verloren gegangene Identität ohne inhaltliche Verrenkungen neu aufbauen? Die SPD-Spitze kann ja beispielsweise schlecht sagen „Die Rente mit 67 war falsch”, während sie die Reform in Wahrheit für richtig hält, da die Demographie nun einmal ist wie sie ist. Mit einer vernunftwidrigen Ideologisierung um jeden Preis, die gerade jetzt verführerisch ist, könnte man zwar links einiges zurückholen, würde jedoch die Partei der Mitte der Gesellschaft entfremden. Die Macht der Union wäre für lange Zeit zementiert.

Was also tun? Die redliche Antwort lautet: Es gibt keine echte Lösung aus dem strategischen Dilemma. Die SPD kann sich tastend nach Links bewegen, auf allen Ebenen neues Vertrauen aufbauen – und auf bessere Zeiten hoffen. Das ist alles.