Dresden. Selten gab es auf einem Parteitag der SPD solch harte und grundsätzliche Kritik an der Führung: Die Delegierten machten ihrem Zorn ungebremst Luft. Viele würden gerne alle sozialpolitischen Maßnahmen der Ära Schröder wieder kippen.
Es wurde kein Scherbengericht und es kam auch nicht zur Eskalation. Aber derart offene und grundsätzliche Kritik wie am Freitag in Dresden war auf einem SPD-Parteitag noch nie zu hören. Fast sieben Wochen nach dem Desaster bei der Bundestagswahl ließen die Genossen ihrem Frust freien Lauf. Und das war - anders als auf früheren Parteitagen - auch ausdrücklich erwünscht. Die Basis hören und wieder ernst nehmen, mit diesem Versprechen trat die neue Führung unter Sigmar Gabriel an. So gab es kein Zeitlimit für die Aussprache, die sich an die Abschiedsrede Franz Münteferings anschloss. 60 Delegierte meldeten sich zu Wort und durften Dampf ablassen.
"Katastrophaler Zustand"
"Am meisten nervt mich, dass die mit den schlechtesten Wahlergebnissen die größte Schnauze haben», griff ein Delegierter aus Hessen die bisherige Führung unter Müntefering frontal an. Andere warfen dem gescheiterten Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier vor, sich noch am Wahlabend per «Selbstausrufung» zum Fraktionschef gekürt zu haben. Auch wurden Zweifel an dem angekündigten Neuanfang laut. Unter den 48 Kandidaten für den SPD-Vorstand seien «ganze elf neue Namen», beklagte der Delegierte Peter Conradi aus Baden-Württemberg. Das klinge eher nach einem beherzten «Weiter so».
"Der Zustand der Partei ist katastrophal», bestätigten viele Delegierte, was Gabriel schon kurz nach der Wahl an die Basis geschrieben hatte. Das Vertrauen in die SPD ging verloren, die Glaubwürdigkeit wurde verspielt. Nach elf Jahren Regierungsbeteiligung im Bund steht die SPD vor einem Scherbenhaufen: die Zahl ihrer Wähler hat sich seit 1998 auf zehn Millionen halbiert; die neue Bundestagsfraktion ist um ein Drittel auf 146 Abgeordnete geschrumpft. «Wenn wir uns nicht um soziale Gerechtigkeit kümmern, werden wir nicht gewählt», stellte der schleswig-holsteinische Landeschef Ralf Stegner nüchtern fest. Die Schere zwischen Arm und Reich sei größer geworden, die Angst vor dem sozialen Abstieg gewachsen. «Das verübeln uns die Menschen», sagte Stegner. Genossen wie der inzwischen ausgetretene SPD-Minister Wolfgang Clement oder der frühere Berliner Finanzsenator und jetzige Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin hätten der Partei mehr als jeder politische Gegner geschadet, klagte er.
Rückbesinnung auf die Grundwerte
Eine zentrale Forderung der vierstündigen Debatte war die Rückbesinnung auf die Grundwerte der Partei. Es fehle nicht an sozialdemokratischen Prinzipien, die stünden längst im Grundsatzprogramm. Nur müssten sie auch umgesetzt werden, was vor allem in den vier Jahren großer Koalition nicht geschehen sei. Manche, wie Vorstandsmitglied Ursula Engelen-Kefer, forderten explizit die Abkehr von der Rente mit 67. Wenn die SPD nicht den Mut aufbringe, inhaltliche Korrekturen bei den Sozialreformen vorzunehmen, «dann kommen wir aus dem Tal der Tränen nicht heraus», mahnte auch Harald Unfried aus Bayern.
Der Parteilinke Nils Annen sagte, Volksparteien müssten auch unterschiedliche Meinungen aushalten. Streit schade nicht, wenn die Menschen den Eindruck hätten, die Partei ringe um richtige Lösungen. Der SPD-Abgeordnete Otmar Schreiner forderte die Wiedereinführung der Vermögensteuer und grundlegende Reformen in der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. Der hessische Landesvorsitzende Torsten Schäfer-Gümbel sagte, nicht jede Strategiefrage dürfe zu einer Macht- und Personalfrage stilisiert werden. Es müsse wieder Verteilungsgerechtigkeit hergestellt werden.
Ein neuer Stil im Umgang miteinander wurde von der Basis vehement eingefordert. «Wir wollen nicht nur Plakate kleben», klagte die hessische Delegierte Ulli Nissen. «Wie brauchen ein neues Zeitalter der innerpartelichen Demokratie», sagte ihr Kollege André Kawai und forderte ein Ende der bisher üblichen Hinterzimmer-Absprachen der Parteiführung. Die Basis soll künftig stärker beteiligt werden, etwa über Urwahlen oder Mitgliederentscheide, das hatte das künftige Führungsduo aus Gabriel und Generalsekretärin Andrea Nahles schon im Vorfeld angekündigt.
Was bleibt vom Erbe der SPD
Einer, der den Neuanfang der SPD nur noch aus der Ferne begleiten wird, verabschiedete sich auf dem Parteitag mit nachdenklichen Worten. Die SPD sei für die Wähler «nicht interessant genug» gewesen, sagte der bisherige Parteichef Müntefering in seiner Abschiedsrede. «Die Niederlage war selbst verschuldet.» Der 69-Jährige sprach von der unzureichenden Fähigkeit der SPD, ihre Politik verständlich zu machen. Der Blick auf seinen eigenen Beitrag zum bitteren Absturz auf 23 Prozent fiel dabei nicht allzu selbstkritisch aus. Den Vorwurf, er pflege einen autoritären Führungsstil, wies Müntefering zurück. Und die heftig kritisierten Reformen verteidigte er.
Was vom Erbe Münteferings erhalten bleibt, entscheidet der Parteitag am Samstag, wenn über die vielen Anträge beraten wird - unter anderem zur Abschaffung der Rente mit 67. (afp)