Berlin. Steuern runter - Abgaben rauf? In den Koalitionsgesprächen von Union und FDP zeichnet sich ein fragwürdiges Nullsummenspiel ab. Kein Wunder, dass sich die Verhandlungen über dieses Wochenende hinaus hinziehen. Am Rande räumt Rüttgers ein: "Es wird nicht nur über Wohltaten zu reden sein".

Union und FDP haben ihre Beratungen in der großen Koalitionsrunde am Samstag vorläufig abgeschlossen. Das teilte CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla in Berlin mit. Die Verhandlungen sollten nun im so genannten Beichtstuhlverfahren fortgesetzt werden, bei dem die Parteivorsitzenden in kleiner Runde mit Vertrauten und Experten Kompromisse zu den besonders schwierigen Fragen ausloten. Nach Angaben von FDP-Generalsekretär Dirk Niebel soll dabei zunächst über Energiepolitik und anschließend über die Gesundheitspolitik geredet werden. Am Sonntag sollen dann alle anderen strittigen Themen beraten werden.

Rüttgers: "Nicht nur Wohltaten"

Angela Merkel hat also den "Schlussspurt" abgeblasen. FDP und Union wollen sich "nicht mehr an diesem Wochenende" auf einen Vertrag einigen, wie die Kanzlerin am Samstag in Berlin versicherte. Dafür haben Merkel und Co. drei Gründe. Teils sind die Verhandlungen festgefahren - bei der Gesundheit -, teils soll noch gerechnet werden, wie stark die Steuern gesenkt werden können. "Dann wird auch nicht nur über Wohltaten zu reden sein", räumte NRW-Regierungschef Jürgen Rüttgers ein. Für die Gegenfinanzierung müsste gestrichen werden: bei Leistungen, Subventionen, auch im Stellenplan der Regierung.

Vor allem droht ein Anstieg der Sozialbeiträge. Steuern runter, Abgaben rauf? Das klingt nach einem Nullsummenspiel. Nicht zuletzt aus taktischen Motiven - dritter Grund - möchten CDU, CSU und FDP nächste Woche weiter verhandeln, nahezu bis zum Vorabend ihrer Parteitage, die am 25. und 26. Oktober den Koalitionsvertrag absegnen sollen. Sie wollen die Zeitspanne zwischen Vertrag und Parteitage kurz halten; aus Sorge, dass die Einigung zerredet wird. Völlig grundlos ist ihre Soge nicht.

Finanzlage ist dramatisch

Für erste Irritationen sorgte in den Verhandlungen eine Streichliste aus dem Ressort von Noch-Finanzminister Peer Steinbrück. Als die Meldung eines Online-Mediums die Runde machte, schauten sich Liberalen und Christdemokraten entgeistert an. Keiner wollte "Steinbrücks Gruß" kennen. Aber alle wussten, dass die Finanzlage dramatisch ist und dass sie "sagen müssen, wo gegebenenfalls gekürzt werden soll", wie Rüttgers klarstellte.

Dann könnte sich herausstellen, dass Arbeitnehmer die Zeche für die Steuerreform zahlen - mit höheren Sozialabgaben. Der Hintergrund: Die Krankenkassen rechnen 2010 mit einem Minus von 7,6 Milliarden Euro und die Bundesagentur mit bis zu 17 Milliarden Euro Miese. Das Defizit sollte die Regierung mit Darlehen ausgleichen. Nun erwägen Union und FDP, sich die Finanzhilfen zu sparen und lieber die Beiträge zu erhöhen.

Steuerentlastung wird wieder aufgefressen

Im Gespräch ist eine Erhöhung des Arbeitslosenbeitrages von 2,8 auf bis zu 4,8 Prozent. Im Gesundheitswesen will man von den Arbeitnehmern - einseitig, wohlgemerkt - Zusatzbeiträge erheben. Auch die Finanzierung der Pflegeversicherung muss neu geregelt werden. Für die Arbeitnehmer bedeutet das: Die Steuerentlastung wird an anderer wieder aufgefressen.

Die Gewinner-und-Verlierer-Rechnung steht aus - auch für die Wirtschaft. Die Erhöhung der Lohnnebenkosten könnte sich kontraproduktiv auswirken. Da deutet sich ein Zielkonflikt an. Auf der einen Seite will die Koalition Wachstum anregen. Auf der anderen Seiten würden gerade lohnintensive Branchen belastet. Da ist der Protest Schwarz-Gelb schon sicher.

Wohlwissend achtet Rüttgers darauf, die Gewerkschaften nicht zusätzlich auf die Palme zu bringen. Er glaubt, "dass am Schluss klar sein wird, dass es keine Änderung beim Kündigungsschutz und bei der Mitbestimmung geben wird."

Info: Beichtstuhlverfahren

Das «Beichtstuhlverfahren» ist eine Form der Diplomatie, die sich bei schwierigen Verhandlungen in der Europäischen Union bewährt hat. Wenn auf EU-Gipfeln gar nichts mehr geht, nimmt sich der EU-Ratspräsident die Staats- oder Regierungschefs der Mitgliedstaaten einzeln vor. Im «Beichtstuhl» werden in vertraulichen Gesprächen Schnittmengen und Verhandlungsspielräume ausgelotet. Dabei gilt der Grundsatz: «Alles hängt mit allem zusammen.» Im besten Fall steht am Ende ein Kompromiss. (Mit Material von afp)