Am 15. Juni öffnen die Grundschulen wieder. Die Ministerin setzt Familien einer Gefahr aus, die niemand richtig einschätzen kann. Ein Kommentar.
Hurra, hurra, die Schule brennt: Das wäre der polemische Einstieg in einen Kommentar, der sich mit der jüngsten, nennen wir es mal überraschenden Entscheidung von NRW-Schulministerin Gebauer beschäftigt und nun landauf, landab für helles Entsetzen bei Schulleitern, Lehrern und sehr vielen Eltern sorgt. In gut einer Woche öffnen die Grundschulen wieder – ohne Abstandsregeln, ohne Mund-Nasen-Schutz, ohne, dass die Schulen darauf vorbereitet wären. Doch das Thema ist zu ernst für Polemik, und es wäre unfair, der NRW-Regierung nicht beste Absichten zu unterstellen.
Was also spricht für eine Schulöffnung zum jetzigen Zeitpunkt? Das wichtigste Argument ist, dass die Bildungsdefizite unserer Jüngsten nicht größer werden dürfen als unbedingt notwendig. Im Hinblick auf den ursprünglich geplanten Lernstoff ist das zu Ende gehende Schuljahr ein Schuljahr zum Vergessen. Jeder Tag mehr Normalität kann da hilfreich sein, besonders im Hinblick auf jene Kinder, deren Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, die Ersatzlehrer zu geben.
Kinderarzt plädierte für schnelle Schulöffnung
Und das ist nicht nur eine Frage des jeweiligen Bildungshintergrunds. Wer beispielsweise im Homeoffice arbeitet, gefangen in dem nicht abreißenden Strom von E-Mails und Videokonferenzen, dabei gleichzeitig mehrere Kinder betreuen, vielleicht noch für diese kochen muss, der tut sich schwer damit, einem Grundschüler geduldig das Einmaleins beizubringen – wenn es die berufliche Situation Homeoffice überhaupt erlaubt.
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Der Ärztliche Direktor der Gelsenkirchener Kinder- und Jugendklinik, Gerrit Lautner, hat jüngst in einem WAZ-Interview dafür plädiert, Grundschulen für alle Kinder schnell zu öffnen. Er verweist auf eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, wonach von Kita- und Grundschulkindern so gut wie keine Gefahr für ihre Altersgenossen und für Erwachsene ausgehe. Das hat viele aufatmen lassen, womöglich auch Frau Gebauer.
Virologe Drosten warnt vor vorschnellen Schlüssen
Andere Forscher sind da vorsichtiger. Bei Kindern unter zehn Jahren wird Covid-19 zwar deutlich seltener diagnostiziert, und wenn doch, dann sind die Verläufe meist sehr milde oder symptomlos. Das bedeutet aber nicht, dass Kinder nicht genau so ansteckend sind wie Erwachsene. Darauf hat der Virologe Christian Drosten in seiner jüngst überarbeiteten Studie noch einmal ausdrücklich hingewiesen.
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Ausgangspunkt für diese Überlegung ist die hohe Zahl an Viren, die man im Rachen der Kleinen gefunden hat. Keiner weiß wirklich, was passiert, wenn Kinder nun wieder in ihre vollgestopften Klassen zurückkehren – Kinder, deren Eltern ihnen mühevoll beigebracht haben, anderthalb Meter Abstand zu halten, und denen jetzt gesagt wird: kannst du ruhig vergessen!
Ist es das wert, zwei Wochen vor den Ferien?
25 Mitschüler in einer Klasse zu haben bedeutet schlimmstenfalls, dass sich Eltern das Infektionsrisiko von 25 anderen Familien ins Haus holen. Das fühlt sich nicht nur wie ein Menschenexperiment an, das ist auch eins. Ist es das wirklich wert, zwei Wochen vor den Ferien? Die Ministerin hätten satte acht Wochen Zeit gewonnen, um zu beobachten, wie die Pandemie verläuft und was bei den Studien zum Thema Corona und Kinder herauskommt.
Doch Dinge in Ruhe zu beobachten, fundierte Entscheidungen zu treffen und diese dann gut zu kommunizieren, gehörte auch bislang schon nicht zu den Markenzeichen Gebauers. Hoffen wir, dass sie der Ministerpräsident (dann nicht zum ersten Mal) zurückpfeift, um Eltern und Kinder nicht einer Gefahr auszusetzen, die derzeit niemand seriös einschätzen kann.
Corona- Wiederöffnung der Grundschulen
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