Witten. Die Inflation ist gesunken. Doch nicht jeder spürt das. In Witten gibt es bedrückende Beispiele von Menschen, die am Monatsende Geldnot haben.
Die Inflation ist im Vergleich zum Beginn des Ukraine-Kriegs deutlich gesunken. Im Oktober gab der Landesbetrieb IT NRW die Preissteigerung mit zwei Prozent an. Das klingt niedrig. Aber ist das Leben für die Menschen in Witten wirklich billiger geworden? Sozialarbeiter Rolf Kappel von der Caritas hat Zweifel. Er nennt bedrückende Beispiele, was es bedeutet, am Monatsende kein Geld mehr zu haben.
Armut hat Namen, Gesichter. Gerade im Marienviertel zwischen Lutherpark und Crengeldanzstraße leben nach dem kommunalen Sozialindex überdurchschnittlich viele Menschen mit wenig Geld. Doch die Betroffenen mochten sich nicht direkt gegenüber der Redaktion äußern. Immerhin vertrauten sie sich Rolf Kappel an, der als Anwalt der Schwachen gilt. Er nennt drei Beispiele.
Uschi H. ist Rentnerin, und sie ist alleinstehend. Sie kauft „auf jeden Fall weiter gesunde Sachen“. Die hohen Preise für Lebensmittel zwingen die Ruheständlerin allerdings zu Verzicht. Sie kauft nicht nur weniger ein, sondern spart auch beim kleinen Luxus, bei Massagen oder Konzerten.
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Uwe W. geht vermehrt auf Schnäppchenjagd. Er bereitet günstig erstandene Lebensmittel zu – und friert sie ein. Regelmäßig schaut er bei Kaufland ganz genau auf Wurst- und Käse-Päckchen, die wegen fast abgelaufener Haltbarkeit preiswerter abgegeben werden.
Brigitte A. muss, wie Rolf Kappel berichtet, als Rentnerin „sehr auf die Preise achten“. Sie kauft sehr saisonal ein und kocht selbst. Letztendlich passe es aber nur, wenn sie verzichte, sprich: weniger einkaufe, wie die ältere Dame dem Sozialarbeiter erzählt.
Einzelfälle? Keineswegs. Kappels Fallbeispiele sind dieser Tage durch Ergebnisse einer Befragung untermauert worden. Studierende der Evangelischen Fachhochschule Bochum hatten sich bei Menschen vor dem Boni-Supermarkt an der Schlachthofstraße umgehört.
Das Kleingedruckte
Die Inflationsrate ist stets in Bewegung. Der Landesbetrieb IT NRW ermittelt Preisveränderungen monatlich. Der Durchschnittswert sagt wenig über tatsächliche Veränderungen der Lebenshaltungskosten. Es lohnt ein Blick aufs Detail. Beispiel Lebensmittelpreise im Oktober: Zwischen September 2024 und Oktober 2024 zogen die Preise für Tomaten (+29,7 Prozent), Weintrauben (+15,0 Prozent) sowie Kopf- oder Eisbergsalat (+14,3 Prozent) an. Butter wurde um 10,1 Prozent teurer. Verschiedene Gemüsearten, etwa Gurken (−23,0 Prozent), Möhren (−12,5 Prozent) und Paprika (−4,9 Prozent), verzeichneten Preisrückgänge.
Insbesondere Rentnerinnen sagten, dass sie im Supermarkt auf preiswertere Produkte ausweichen, Sonderangebote nutzen oder öfter zum Discounter gehen. Rolf Kappel weist nebenher darauf hin, dass es ausgerechnet in der sozial schwächeren nördlichen Innenstadt keinen Discounter gebe. Zuweilen bleibe Seniorinnen und Senioren kaum eine andere Wahl, als weniger zu essen.
Die Caritas bietet Hilfe in der Not. Im Gebäude des katholischen Sozialverbandes, Hauptstraße 81, sind während der Öffnungszeiten – montags bis mittwochs von 9 bis 13 Uhr sowie donnerstags von 10 bis 13 Uhr – Lebensmittelkonserven kostenlos zu haben. Das Angebot richtet sich an Rentner mit Mini-Ruhestandsgeld und an Obdachlose. Außerdem gibt es an jedem leltzten Donnerstag im Montat im Café Credo einen kostenlosen Mittagstisch.
Die ältere Generation mit kleiner Rente hat in Zeiten gestiegener Preise ein weiteres Problem. Der öffentliche Nahverkehr wird – dem Deutschland-Ticket zum Trotz – als zu teuer wahrgenommen. Rolf Kappel: „Seniorinnen und Senioren haben teilweise Schwierigkeiten, mit den Fahrpreisen klarzukommen.“
Rente mit kleinem Ruhegeld empfinden Busfahrten als zu teuer
Eine Gruppe finde die zum 1. Januar 2024 beschlossene Preiserhöhung beim Deutschland-Ticket von 49 auf 58 Euro gar nicht „maßvoll“, wie der grüne NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer die Entscheidung der Bundesländer kommentiert hatte. Für eine andere Gruppe lohne sich ein Deutschland-Ticket nicht, wie Kappel erfuhr. Die Menschen wünschen sich demnach niedrigere Ticketpreise.
Sie umgehen als zu hoch wahrgenommene Preise für Busfahrten, indem sie teilweise eine oder zwei Stationen zu Fuß laufen, um in die nächstgünstigere Tarif-Wabe zu kommen. Oft, weiß Rolf Kappel, überlegen sich Menschen dieser Gruppe zwei Mal, ob eine Busfahrt wirklich nötig sei - und bleiben kurzerhand zuhause.
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